Der erste Reisebericht aus dem Nirgendwo – zwischen Ballsaal und Parkhaus

Liebe Leserinnen und Leser,

vorneweg:
Sollten Sie nach unberechenbarer Gesellschaft suchen,
wäre das Glück eine prächtige Wahl.

Warum?

Die entzückende Antwort in einem Gedicht:

Das Glück…

…verzehrt sich schnell, vermehrt sich selten,
…bekehrt den Schwermut, verehrt den Tüchtigen,
…belehrt den Zweifel, entbehrt der Pein.
…ist Atemluft der Hoffnung, Geschwisterduft des Pechs,
…ist Geist, den wir rufen, meist Gier, die uns täuscht,
…ist ganz nah – aber scheu, ganz da und schon fort.

Für die folgenden Leseminuten sollten Sie
• etwas Vorschuss-Glück im Hosensack mit sich tragen,
• einer inneren Stimme nicht immer vertrauen,
• das Staunen als Faszination armen Geistes begreifen,
• Hartgeld über die Maßen zu schätzen wissen,
• das Glück der Nicht-Katastrophe ehren und
• es nicht mit billigen Lotto-Flittchen betrügen.

Es folgt nun aus einer Zeit, der Sie nicht beikommen können:

Der erste Reisebericht aus dem Nirgendwo – zwischen Ballsaal und Parkhaus

Teil 1

Drei Gepäckstücke! Eins, zwei, drei! Nicht mehr! Das kann ich mir merken:
• meine Umhängetasche,
• eine Tüte mit kleinen Geschenken – weihnachtlich bedruckt und
• meine Pfeifenmappe.

Eins, zwei, drei! Das kann ja nicht so schwer sein.

Als Leidgeprüfter in Sachen schussliger Vergesslichkeit habe ich mir weltklassige Strategien zurechtgelegt: Merk- und Erinnerungsstrategien – auf ganz hohem Niveau. Profi im Kopf!

Wenn man – wie ich – schon unzählige Male das Haus verlassen hat,
• ohne Schlüssel, obwohl ich wieder nach Hause kommen wollte,
• ohne Geld, obwohl ich dringend etwas einkaufen musste,
• ohne Hose, obwohl diese zur Reinigung sollte,
• ohne Firmenausweis – auf dem Weg zur Arbeit,
• ohne Geschenk – auf dem Weg zu einem Geburtstag,
• ohne Kinder – auf dem Weg zum Kinderarzt,
• ohne Eintrittskarten – ohne, ohne, ohne
dann sind Strategien unerlässlich.

Überredungskünste sind hilfreich, aber nicht immer das Maß der Dinge. Strategien sind besser!

Ich habe fest zugewiesene Plätzchen für alles Mögliche: die Schlüssel, das Portemonnaie oder die Parkmarke. Eins, zwei, drei! Alles hat seine Ordnung, und der strukturierte Geist kommt nicht mehr in Schwulitäten.

„Eine ziemlich gerissene Vorgehensweise!“

Vor allem, wenn man den so oft beklagten Verzweiflungsrand schon 1000 Mal ohne Anlauf übersprungen hat. Von der anderen Seite bietet sich ein Bild des Entsetzens: ein erschütternder Anblick der eigenen, sehr bedauernswerten Minderbegabung. Das kann ich Ihnen sagen.

Wie das geht?

Jenseits des Randes der Verzweiflung schaut man – beim Blick zurück – durch ein offenes Fenster in die Vergangenheit.

Was man sehen kann?

Gestochen scharfe Bilder blitzgeschwängerter Ausläufer eigener Intelligenztiefs.

Tölpelhaftigkeit im Großformat.

„Wirklich nichts, was man immer wieder sehen will.“

Deshalb ist Ordnungsliebe so überlebensnotwendig. Lassen Sie sich das gesagt sein. Mit einer gewitzt erdachten, ganz privaten Ordnung auf einem Nebenspeicherplatz meines Hirns kann sich mein Hauptspeicher um die wesentlichen Dinge des Lebens kümmern. Was auch immer diese sein mögen.

Also:
Meine Tasche liegt unter meinem Stuhl (in dem großen Ballsaal, in dem ich mich gerade befinde), die weihnachtlich bedruckte Weihnachtstüte mit Geschenken steht daneben, meine Pfeifenmappe liegt darauf. Alles super.

Der kleine Vortrag, den ich in dem großen Saal halten darf, ist von besonderer Anspruchslosigkeit. Als ob man das Alphabet rückwärts aufsagen müsste, um dabei Oh Du Fröhliche“ herzwärts in sich hineinzusummen; schon mal in aller Vorfreude auf die bevorstehende Weihnacht und in aller Stille. Als kleine Aufmerksamkeit für meine Anstrengungen empfange ich – in ansprechender Kartonage – ein Fläschchen gekelterten Rebensafts.

„Wie schön.“

An meinem Platz zurück sind meine Nebensitzer ausgebüchst. Sicher eine kaffeevergewaltigte Blase! Oder die namenlose Angst, das Wichtigste des Tages doch nicht verpassen zu können!

„Nun gut.“

Die Pfeifenmappe lege ich sorgfältig auf den freigewordenen Stuhl neben mir, stelle den Weinkarton neben die hübsch bedruckte Tüte mit Geschenken und nehme Platz. Meine Tasche liegt noch brav unter mir. Den kleineren Anflug schweißgewordenen Lampenfiebers verarbeitet mein Organismus nun entspannt im Sitzen.

Die folgenden Stunden der Zerstreuung breiten sich in üppigem Folienformat über mich. So eine Großleinwand ist eben geduldig und höchst wehrlos. Doch sie schenkt mir kapitale Augenblicke des Müßiggangs. Ich ergehe mich in dieser wahren Kunst: der Selbstwidmung, der Selbstbelebung, der Selbstbefreiung. Dann plötzlich: Getragene Worte des Abschieds und einer leicht verkrümmten Weihnachtsbotschaft kriechen aus den Lautsprechern und dringen an mein Ohr. Mein Haupthirn geht endgültig in den Ruhezustand und mein Nebenspeicher kommt an den Start.

„Mein Sitzfleisch ist total breit gesessen. Pfannenfertig.“

Drei Gepäckstücke. Ich stehe auf: Eins, zwei, drei! Jäckchen über den linken Arm. Ich brauche den rechten zum Schütteln einiger Hände. Es werden gut 2000 sein (einige davon doppelt; da kann man schon mal durcheinander kommen). Meine Grüße und Glückwünsche kommen aus präziser Massenfertigung.

„Und jetzt ab durch die Mitte.“

Das Jäckchen jetzt wieder über den rechten Arm und auf geht’s zum letzten Termin des Tages: Ein informelles Abendessen unter Kollegen. In einer örtlichen Speiserei. Nett. Unspektakulär. Zwischenmenschlich wertvoll. Die Rechnung kommt gegen 20.30 Uhr! Persönlicher Zapfenstreich!

Eins, zwei, drei!

„Diese Listen im Kopf sind Gold wert!“

Als ich an die frische Luft trete, weiß ich sofort, was mir nach einem langen Tag (mit kolossaler Völlerei) zu meinem ganz persönlichen Glück noch fehlt:

„Ein Pfeifchen. Lecker!“

Gerade bei einem gemütlichen Spaziergang zum Parkhaus – ein Traum! Eins, zwei, drei!

Der gewiefte Leser hat es schon bemerkt: Mit dem verflixten Weinpräsent kam eine geistige Turbulenz in mein Leben. Ich müsste vier Päckchen haben, nicht drei! Eins, zwei, drei, vier! Ich habe nur drei: Tasche, Tüte – hübsch bedruckt – und die Kartonage mit dem bescheuerten Wein.

„Den kann ich unmöglich auf dem Weg ins Parkhaus aufmachen. Meine Pfeifenmappe liegt im Ballsaal. – Hoffentlich!“

Also nicht rauchen und auch nicht trinken, sondern flugs den Weg zurück antreten. Ein Verdauungsspaziergang. Man muss das Gute im Bösen sehen.

Als ich den Saal betrete, erkenne ich ihn nicht wieder. Leere! Kein Menschenauflauf mehr, kein Buffet, nur ein paar verlorene Möbelstücke und vier finster dreinblickende Gestalten mit Stahlkappenschuhen stehen noch kreuz und quer.

Mein erster Eindruck von den Burschen: Die lokale Unterwelt hat einen Arbeitsplatz gefunden.

„Das Aufräumkommando! Wuchtig!“

Ich sehe mehr Tattoos als zwei Quadratmeter zur Schau getragene Haut verkraften können. Wahrscheinlich hat deswegen – drei Meter vor mir – einer der Kollegen des S.W.A.T.-Teams (Special Weapons for Aufräum-Tactics) einen Stacheldraht am Hals tätowiert. Ein sicheres Zeichen für jeden Körperkünstler, dass hier Schluss ist.

Der Zweite, den ich aus der Nähe sehe, ist hier weniger entschieden: Die schwarzroten Flammen schlagen aus seinem ärmellosen Baumwoll-Unterhemd als hätte er eine intakte Stahl-Gießerei darunter verborgen. Die Flammen züngeln über seine rechte Wange bis hin zum getunnelten“ Ohr. Ein Anblick, den man sich ersparen darf. Das Loch im Ohrläppchen erinnert mich unvermittelt an die Torwand einer national bekannten Sportsendung.

„Klasse! Dieses Bild nehme ich ganz sicher mit in die Familiengruft.“

Seine Muskeln wirken grotesk. Die rohrdicken Blutversorgungsbahnen auf seinen Armen lassen auf eine massive Unterversorgung anderer Körperteile schließen. Miteinander verknüpft, reichen diese Adern bestimmt auch von hier bis über den Ural. Lächerlich.

Was Frauen zu mir sagen:
Paul, so viele Muskeln sind nicht schön.“

„Ob sie mich aus Mitleid belügen?“

Egal! Ich möchte mir zuflüstern:
Recht haben sie“.

„Obwohl, wenn man es recht bedenkt: Habe ich schon einmal einen Mann zu einer zierlichen Frau sagen hören, dass zu viele Rundungen der weiblichen Ästhetik schaden würden? Na ja, was soll’s!“

Der dritte im Bunde des S.W.A.T.-Teams sieht – von hinten und auf den ersten Blick – aus wie Du und ich. Auf den zweiten Blick und von vorn stellen sich drei ernste Fragen:
Kann man mit einem solchen Ring in der Nase überhaupt noch vernünftig schnäuzen?
Wie merkt man, ob am Metall etwas hängengeblieben ist?
Magnetisch?

Antworten habe ich keine. Zum Fragen bin ich zu feige.

Der Letzte des S.W.A.T.-Teams dürfte mein Alter haben. Sicher der Spiritus rector, wenn es denn hier einen geben muss, der Capo. Er wirkt, als hätte er gerade einen Drachen frittiert und verspeist. Es könnte aber auch der Bruder des Verhüttungs-Burschen mit der flammenden Wange gewesen sein.

„Gut Kirschen essen ist heute Abend nicht mehr drin. Schon ein Kirschmarmeladenversuch könnte kühn sein.“

Seine Statur erinnert an die Papiertonne vor meiner Haustür. Nur doppelt so hoch! Meine Blicke schweifen durch den Saal.

„Meine Pfeifenmappe?“

In den hintersten Winkeln, auf den Ablagen, unter den verbliebenen Tischen? Fehlanzeige.

„Ich muss mit mir sprechen!“

Ich: „Paul, Du bist ein Depp! Das ist jetzt Deine dritte Pfeifenmappe, die Du in den letzten Jahren verbaselt hast!“
Ich: „Stop mal: Eine ist mir geklaut worden!“
Ich: „Red Dich jetzt nicht raus, Du musst nicht immer die Schuld bei anderen suchen!“
Ich: „Meine Strategien sind super. Lass mich in Ruhe!
Ich: „Paul, das ändert nichts daran, dass Du ein Depp bist!“
Ich: „Statt mich hier anzumachen, sag mir lieber, wo ich das Ding hingelegt habe!“
Ich: „Da wirst Du schon einen vom S.W.A.T. fragen müssen!“
Ich: „Nicht Dein ernst!“
Ich: „Absolut!“

„Welchen suche ich mir aus?“

Ich (hebe die Hand, richte mich auf, gehe auf die mannshohe Papiertonne zu, der Capo):
„Verzeihen Sie, hat jemand von Ihnen beim Aufräumen eine schwarze Pfeifenmappe gefunden?“

Er sieht mich an.

Pause.

„Oh verdammt, er spricht kein Deutsch!“

Aus kurzer Distanz sieht sein Gesicht aus, wie ein naturbelassener Nationalpark: vergletschert in den oberen Regionen, felsig im Mittelteil, am unteren Ende bewaldet bis moosig.

Pause.

Er: „Hä?“

„Gott sei Dank, er tut es doch!“

Ich (ausgesucht höflich):
„Ich war vorhin Teilnehmer der Veranstaltung hier im Saal und habe blöderweise meine schwarze Pfeifenmappe auf einem der Stühle liegenlassen. Haben Sie sie gesehen?“

Er (zuckt mit den Schultern, dreht den Kopf, laut, Bass):
„Hat einer von Euch…“

Stacheldraht, Hochofen und Ochsen-Piercing sehen in unsere Richtung.

Er (dreht sich zurück zu mir, gedämpft):
„Was?“

Die drei halten den Blick.

Ich (weiterhin höflich, lächle, was bleibt mir übrig):
„Eine schwarze Pfeifenmappe!“

Er (dreht sich in die Weite des Saals zurück):
„…eine schwarze Mappe gesehen?“

Etwas verkürzt, aber man gibt uns Zeichen. Keine Ahnung, was sie bedeuten.

Er (dreht sich wieder zu mir):
„Wie groß?“

„Echt, jetzt?“

Eine Frage, mit der ich nicht gerechnet habe. Wie groß ist eine Pfeifenmappe? Kleiner als ein Koffer, größer als ein Streichholzbriefchen. 20 mal 15 Zentimeter. Ich forme mit den Händen ein passend großes Rechteck und halte es sichtbar in die Höhe. Das S.W.A.T.-Team starrt auf mein Rechteck, als hätte ich meine schusssichere Weste ausgezogen. Dann schütteln sie kollektiv mit den Köpfen.

Er (ernst, übersetzt simultan):
„Nein!“

Ich (ziehe die Weste in Gedanken wieder an, bin aber ein bisschen entmutigt):
„Danke.“

„Wo hab ich das verdammte Ding nur hingelegt? Hat es jemand mitgenommen?“

Nach einer letzten ausgiebigen Runde durch den Saal – in gebührendem Abstand vorbei an den härtesten S.W.A.T.s, die ich mir vorstellen kann, verlasse ich diese traurige Stätte wieder.

,„Zum Teufel mit dem Wein.“

Ich: „Verflucht!“
Ich: „Und was kommt jetzt?“
Ich: „Vielleicht ist was am Empfang abgegeben worden.“
Ich: „Einen Versuch ist es wert!“

Das Mädel an besagtem Empfang ist ganz nach meinem Geschmack: gepflegt, aufmerksam, zugewandt. Sie lächelt mir warm entgegen. Ich lächle noch wärmer zurück. Sie ist vielleicht um die 25. Mittelgroß. Brünett. Ordentlich frisiert. Adrette Erscheinung. Ich komme lässig an den Tresen. Stütze die Ellbogen auf seine glatt polierte Oberfläche. Lehne mich vor.

„Jetzt: Maximale Vertrauenswürdigkeit.“

Sie (leise, fast vertraut):
„Was kann ich für Sie tun?“

Ich (das kann ich auch, leise):
„Ich habe vorhin bei der großen Veranstaltung hier im Haus meine Pfeifenmappe vergessen.“

Ihre Mimik verrät mir Mitgefühl.

„Gut.“

Das Telefon klingelt. Sie hebt die linke Hand, ein Pausenzeichen für mich. Sie hebt mit der rechten Hand den Hörer ab. Ich lausche den Worten einer langen Begrüßung, intensiver Kundenorientierung, einer schwierigen Vorreservierung. In dieser Zeit bin ich reinste Luft. Unsichtbar. Also verhalte ich mich auch so. Keine überflüssigen Bewegungen, ein paar inhaltslose Blicke. Ich pfeife nicht, zucke nicht, runzle nicht einmal die Stirn.

„Auf der Arbeitsplatte vor mir ist alles an seinem Platz. Wirklich sehr ordentlich.

Ich versuche, aufs Äußerste unauffällig zu sein.

„Kann ich den Jahreskalender auf der Arbeitsplatte auch auf dem Kopf lesen?“

Auf Anhieb: Januar, Februar, März…

„Ich bin ein Genie!“

Langsam kommt die Lust in mich, einen kleinen China-Böller hinter den Tresen zu werfen.

Da! Das Telefonat unserer Schönheit neigt sich dem Ende zu. Sie legt auf, blickt auf, lächelt wieder. Leben kommt in mich.

Sie (wieder leise, wieder ein bisschen vertraut):
„Was kann ich für Sie tun?“

„Hatten wir das nicht schon?“

Ich (beuge mich weiter vor, leicht beschwörend):
„Ist bei Ihnen vielleicht eine Pfeifenmappe abgegeben worden?“

Sie (beugt sich ebenfalls vor; ich sehe, dass mehrere Wimpern tuscheverklebt sind):
„Nein, tut mir leid, aber ich schaue gerne mal für Sie nach!“

Sie lächelt jetzt sicher ihr schönstes Lächeln.

Das Telefon klingelt wieder.

„Mal sehen, ob sie wieder die linke Hand hebt.“

Sie tut es. Ich habe wieder Pause. Sie hebt ab. Ich gleite erneut in die naturreine Nichtanwesenheit.

„Was sind leibhaftige Menschen schon neben einem Telefon? Pah!“

Ich versuche, mich wieder zu beschäftigen: Hole mein Smartphone – ohne ruckartige Bewegungen – aus der Hemdbrusttasche. Keine Neuigkeiten. Stecke es wieder weg. Die Verhandlungen am Telefon über das Anreisedatum dauern an.

„Kann ich auch die Zahlen unter den Monatsnamen lesen?“

Beim ersten Versuch, ohne Lesebrille: eins, zwei, drei!

„Wie gesagt: Ein Genie!“

Da fällt mein Blick auf den Sponsor des Kalenders: das Hotel selbst. Name, Postanschrift, E-Mail-Adresse.

„Vielleicht sollte ich dem Mädchen am Telefon eine Mail schreiben.“

Da! Ganz unten entdecke ich eine Telefonnummer.

Ich: „Das ist einen Versuch wert.“
Ich: „Spinnst Du?“
Ich: „Komm, lass es uns versuchen.“
Ich: „Nie und nimmer.“
Ich: „Bitte, bitte!“
Ich: „Nein!“

Ich zücke unauffällig noch einmal mein Smartphone. Gut, wenn man nicht nur ein Genie ist und nicht auf sich selbst hört, sondern auch noch Telefonnummern locker mit den Augen abfotografieren kann.

Ich: „Das wird ein Spaß!“
Ich: „Du hast einen Knall!“

Die Nummer ist schnell eingetippt. Das grüne Hörerchen drücke ich noch nicht. Ich gedulde mich.

„Na warte, Mädel!“

Der zweite Weihnachtstag um 11 Uhr ist das Ergebnis der Verhandlung mit meiner Schönen am Telefon. Ein Wort zum Abschied. Sie legt auf. Ich drücke beiläufig und unentdeckt das grüne Hörerchen. Sie wendet sich mir zu. Wieder auf den Tresen gelehnt, verschwindet mein Mobiltelefon in der Achselhöhle.

Sie (leise, fast vertrauter als zuvor):
„Was kann ich für Sie tun?“

 „Begrüßung, die Dritte!“

Ich (beuge mich wieder vor, lächle):
„Ich wette, dass Ihr Telefon gleich wieder klingelt!“

Es klingelt.

„Perfektes Timing!“

Sie hebt die linke Hand. Pausenzeichen. Das Mädel ist bis zum Anschlag auf Automatismen gedrillt, das muss ich schon sagen.

„Wahnsinn!“

Sie hebt ab. Ich nehme mein Telefon ans Ohr, lausche Ihrer Begrüßung. In Stereo.

Ich (habe sie fest im Blick, leise, ins Hörrohr):
„Ist bei Ihnen vielleicht eine Pfeifenmappe abgegeben worden?“

Solch einen Scherz kann man sich nicht verkneifen, selbst wenn ich nachher von der Polizei abgeführt werden sollte. Unmöglich. Ihr Blick verrät einen schmerzhaften Stich in ihrem Ohr, dann wandert der Blick mir zu. Leichte Unsicherheit. Unsere Blicke treffen sich. Ich zwinkere. Ihre Hand fällt nach unten. Ich fange sie auf, bevor der Hörer auf die „Gabel“ knallt.

Ich (nehme das Telefon vom Ohr, leise):
„Nicht auflegen. Dann ruft auch keiner mehr an!“

Sie wirkt, als wäre sie aus allen Automatismen und allen Latschen dieser Welt gekippt. Freier Fall. Ich habe ihre volle Aufmerksamkeit, lasse ihre Hand wieder los. Sie legt den Hörer wie ein rohes Ei neben das Telefon. Ich drücke das rote Hörerchen an meinem.

Ich (ganz leise, fast zärtlich):
„Ist bei Ihnen vielleicht eine Pfeifenmappe abgegeben worden, meine Liebe?“

Es vergehen zwei lange Sekunden. Sie sieht mich an. Mit einem Mal lacht sie. Aus dem Nichts. Schallend. Ansteckend.

„Nicht gespielt. Echt. Zahnreihen – wie eine doppelte Perlenkette!“

Ich lache mit. Das nonverbale Glück der Weihnacht gibt sich ein Stelldichein. Hier am Tresen. Sie legt mir Ihre Hand auf den Unterarm.

Sie (gelöst, glucksend, fast euphorisch):
„Ich schau für Sie nach!“

Sie schüttelt sich vor Lachen, schaut unter den Tresen, lacht, durchstöbert ein paar Schubladen, lacht, öffnet einen Aktenschrank.

Sie (kommt wieder auf mich zu, unter Freunden):
„Tut mir sehr leid, aber ich kann wirklich nichts finden. Kann ich Ihnen anderweitig helfen?“

Ich schüttle den Kopf.

Sie (hat wieder Oberwasser, flachst):
„Soll ich Sie anrufen? Ich hab‘ ja jetzt Ihre Nummer?“

Ich (von Beschwörung keine Spur mehr, lache):
„Nicht nötig! Danke! Nur, wenn Sie meine Pfeifenmappe finden!“

Ich wende mich vom Tresen ab. Winke ihr zum Abschied.

„Jetzt ist guter Rat kein Schnäppchen mehr. Vielleicht hat ja einer vom Event-Team etwas gefunden?“

Irgendwie beschwingt, tätige ich – nach einigem Hin und Her mit der Auskunft – zwei Telefonanrufe. Beide Teilnehmer sind auch zu dieser späten Stunde noch sprechbereit. Superklasse!

„Es kann ja auch mal was funktionieren!“

Es ist 20.55 Uhr. Die Antwort, die ich bei meinem zweiten Telefonat erhalte, ist ein weiteres Glanzlicht dieses weihnachtlichen Abends.

Die Stimme (zweites Telefonat):
„Ihre Pfeifenmappe, Herr Stein?“

Pause.

Die Stimme (wie selbstverständlich):
„Habe ich mitgenommen! Ich wusste ja nicht, Herr Stein, ob Sie noch mal ins Hotel zurückkommen! Sie können sie gerne Morgen bei mir im Büro abholen.“

„Was für ein Dusel, mein Freund!“

Ich bedanke mich dutzendfach und lege, als ich gerade den Veranstaltungsort durch eine große Drehtür wieder verlasse, auf.

„Das mit dem Rauchen kann ich vergessen! Aber immerhin ist meine Pfeifenmappe wieder da. Wie schön.“

Nun denn: eins, zwei, drei (nicht vier!). Das Jäckchen habe ich noch an. Ordnung ist das halbe Leben.

„Jetzt kann auch beim bösesten Willen nichts mehr schief gehen.“

Ich mache mich wieder auf den Weg Richtung Parkhaus, mehr beschwingt, als geknickt.

In Gedanken sortiere ich meine Liste:

„Tasche, Tüte – weihnachtlich bedruckt, Weinkarton.“

Und weiter:

„Geldbörse ist in der Tasche, Schlüssel in der rechten Außentasche des Jäckchens!“

Ich tippe darauf. Fühle den Schlüssel. Alles gut.

Ich: „Paul?“
Ich: „Was willst Du?“
Ich: „Hast Du passendes Geld für den Parkautomaten?“
Ich: „Was wird’s kosten?“
Ich: „15 Euro?“

Ich bleibe stehen und zücke mein Portemonnaie: alles an seinem Platz. 14 Euro in Hartgeld und ein 50-Euro-Schein.

„Das sollte genügen!“

Ich: „Und was, wenn der Automat keine Fünfziger wechselt?“
Ich: „Ach was!“
Ich: „Aber maul nachher nicht rum!“

Die Börse verschwindet wieder in der Tasche und meine Hand wandert instinktiv zur hinteren Gesäßtasche. Dem Platz, wo die Parkmarke ihre angestammte Heimat hat. Ich fühle vorsichtig das Papier hinter dem Stoff.

„Gut!“

Ein Griff in die Tasche: Ich ziehe den gefalteten Veranstaltungsplan hervor.

Ich: „Paul?“
Ich: „Was willst Du?“
Ich: „Wo ist die Scheiß-Parkmarke?“
Ich: „Keine Ahnung!“
Ich: „Du weißt es!“
Ich: „Lass mich in Frieden!“
Ich: „Gib’s zu!“
Ich: „Nein!“
Ich: „Paul?“
Ich: „Nein!“
Ich: „Du hast sie in die Pfeifenmappe gesteckt, weil dort der Magnetstreifen nicht knicken kann, richtig?“
Ich: „Lass mich in Frieden, sag ich!“
Ich: „Idiot!“

„Mein Bett ruft nach mir.“

2. Teil

Auf den verbleibenden 200 Metern bis zum Parkhaus sortiere ich meine Optionen.

„Wie blöd kann man eigentlich sein?“

Der Weg zieht sich. Meine Schritte sind schwer und kurz. Mir wird langsam kalt.
Ein innerer Diskurs ist unausweichlich…

Ich: „Ich lasse mir die Parkmarke und die Pfeifenmappe ins Parkhaus bringen.“
Ich: „Was willst Du machen?“
Ich: „Mir die Parkmarke bringen lassen!“
Ich: „Paul!?“
Ich: „Was?“
Ich: „Du machst Witze!“
Ich: „Dir gefällt die Idee nicht!“
Ich: „Nein!“
Ich: „Was gibt es daran auszusetzen?“
Ich: „Jetzt überleg doch mal.“
Ich: „Oh, komm schon!“
Ich: „Denk um Himmels Willen mal nach! Niemand will Dir mitten in der Nacht Deine Pfeifenmappe bringen! Niemand! Ich würde sie Dir auch nicht bringen.“
Ich: „So! Und warum nicht?“
Ich: „Andere Menschen haben auch ein Privatleben und es ist bald Schlafenszeit.“
Ich: „Aber ich bin in einer Notlage!“
Ich: „In einer Notlage? Und was ist das bitteschön für eine Notlage? Geistige Armut?“
Ich: „Das muss ich mir nicht bieten lassen!“
Ich: „Doch das musst Du! Was willst Du denn erzählen? Dass Du süchtig bist und unbedingt rauchen musst? Oder dass Du Deine Parkmarken immer so clever in Deiner Pfeifenmappe aufbewahrst und jetzt in diesem Scheiß-Parkhaus festhängst?
Ich: „Was sonst?“
Ich: „Hört sich super an, Paul! Das sollten wir machen!“
Ich: „Ist ja schon gut!“

Pause!

Ich: „Ich lasse das Auto stehen und komme morgen mit der Parkmarke und meiner Pfeifenmappe zurück.“
Ich: „Das ist ja noch idiotischer!“
Ich: „Warum das denn jetzt?“
Ich: „Du willst Dich mit der Bahn auf den Nachhauseweg machen? Ernsthaft? Mitten in der Nacht? Und Morgen willst Du mit den Öffentlichen ins Büro fahren, um dann mit der Bahn wieder hierher zurückzukehren? Das ist Dein Plan, Paul?“

Ich schmolle!

Ich: „Das macht in Summe drei Stunden öffentlicher Nahverkehr für die Kleinigkeit von 15 Euro! Bist Du noch ganz bei Trost?“
Ich: „Dir gefällt diese Idee auch nicht!“
Ich: „Gefallen? – Sie ist hirnverbrannt!“

Pause!

Ich: „Dann hole ich die Parkmarke und die Pfeifenmappe eben noch heute Abend bei der netten Finderin ab.“
Ich: „Jetzt reicht‘s aber!“
Ich: „Und Du gehst mir auf die Nerven!“
Ich: „Aber das ist doch der gleiche Blödsinn. Diesmal nur im Quadrat einer beknackten Kombi: Die halbe Nacht mit der Bahn ein Vermögen verschwenden und die Finderin im Nachtgewand vom Schlafen abhalten! Geht’s eigentlich noch?“
Ich: „Hast Du eine bessere Idee?“
Ich: „Nein!“

Pause!

Ich: „Und was hältst Du davon, wenn ich mir eine neue Parkmarke organisiere?“
Ich: „Klasse!“
Ich: „Ich bin eben kreativ!“
Ich: „Kreativ nennst Du das?“
Ich: „Ich habe wenigstens Ideen.“
Ich: „Bescheuerte Ideen!“
Ich: „Ich kann sehr gut organisieren!“
Ich: „Hör doch auf! Wo kriegen wir jetzt eine Parkmarke her? Hm? Sollen wir uns vielleicht eine basteln?“
Ich: „Deine Beiträge sind nicht gerade hilfreich!“
Ich: „Manchmal ist weniger eben mehr!“
Ich: „Jetzt kneifst Du!“
Ich: „Nein Paul! Bei so was mach ich nur nicht mit. Das hat mit Kneifen nichts zu tun!“

Pause!

Ich: „Dann fahr ich ganz dicht hinter einem anderen Auto durch die Schranke.“
Ich: „Das ist jetzt die Krönung!“
Ich: „Warum denn?“
Ich: „Schon mal was von Überwachungskameras gehört?“
Ich: „Glaubst Du wirklich, dass die wegen so was einen Aufstand machen?“
Ich: „Wegen Betrugs? Ich denke, dass man schon für viel weniger eingebuchtet worden ist!“
Ich: „Aber jetzt kneifst Du!“
Ich: „Meinetwegen, aber für ein paar Euro vor den Kadi? Das ist doch selten dämlich!“

Pause!

Ich: „Sollen wir Parkhauswächter bestechen?“

Ich halte inne. Fröstle.

Ich: „Das ist gar nicht mal so blöd.“
Ich: „Echt?“
Ich: „Echt!“

Pause!

Ich: „ Aber warum denn gleich bestechen?“
Ich: „Was denn sonst?“
Ich: „Es könnte ja auch eine Wächterin sein…“
Ich: „…vielleicht…“
Ich: „…dann könnte man sie…“
Ich: „Es ist ja Weihnachten!“

Der Plan steht: Eins, zwei, drei, vier! Parkhauswächterin aufsuchen, Parkmarkenverlust tränenreich in Szene setzen, Strafzahlungen kunstvoll abwehren, Parkhaus umgehend verlassen!

„Eins, zwei, drei, vier! Das müsste doch zu schaffen sein.“

Als die Einfahrt des Parkhauses vor mir auftaucht, höre ich eine Kirchenglocke: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben acht, neun! Es ist 21.00 Uhr.

„Mein Bett ruft immer lauter!“

Mit der Neun passiere ich die Schranke der ebenerdigen Parkhaus-Einfahrt. Ich laufe gegen eine unsichtbare Wand.

„Um Gottes Willen!“

Des Teufels Pissoir! In Gestalt eines Parkhauses! Seine Pforte ist genau hier. Kloakiger Urindampf entfaltet sich. Machtvoll! Männlich! Als würde man in eine überdimensionale Urinale einer drittklassigen Absteige klettern. Der Türsteher ist ein Paarhufer mit Dreizack, als verdichtete Stinkwolke verkleidet. In Fachkreisen nennt man diesen Gestank einen Schleimhauthaken. Luzifer ist heute Linksausleger. Teufels Werk und Mannes Beitrag. Männer sind Schweine und wahllose Reviermarkierungen kommen als Ausrede nicht in Frage.

„Frauen setzen sich nie zwischen parkenden Autos in die Hocke! Never! In keinem Parkhaus dieser Welt! Das kann, das will ich mir nicht vorstellen!“

Und nur um es klar zu machen: Die Ränder aller Verzweiflung in unserer Welt können genau hier sein: hinter dieser Schranke! Einem gelblich verfärbten Keramikrand unserer Phantasie. Niemand will an diesem Punkt zurückschauen. Und schon gar nicht durch das sperrangelweit geöffnete Fenster hinter einem – in die eigene Vergangenheit…

„Warum auch? Alles, was es zu sehen gibt, ist schmerzlich bekannt: Einfalt – der ganz erlesenen Sorte!“

Hinter der Schranke ist es aber wenigstens nicht ganz so frostig. Ich gestatte mir einen Seitenblick: Das Schild zu meiner Linken verrät mir, dass der Tageshöchstsatz in diesem Parkhaus satte 18 Euro beträgt. Das bringt mich zum Nachdenken:

„Männer sind nicht nur Schweine. Sie sind auch rabiat-rücksichtslose Rächer. Gerade nach einem Besuch am Parkmarkenautomat. 18 Euro? Da kann man schon mal einen schonungslosen Racheakt an die Wand urinieren!“

In Klammern – hinter „Tagesmaximum“ – steht „Parkscheinverlust“. Das Wort treibt mir Phantomschmerzen durch meine Glieder: die amputierte Pfeifenmappe.

„Das kann ich niemandem erzählen.“

Die letzten Meter bis zum Kabuff der Parkplatzwächterin verlangen mir einiges ab.

Ich: „Das stinkt ja bestialisch hier!“
Ich: „Du gewöhnst Dich dran. Konzentrier Dich lieber auf Deinen Auftritt.“
Ich: „Wie fange ich an?“
Ich: „Ganz einfach!“
Ich: „Na, dann lass mal hören.“
Ich: „Du musst leise sprechen. Etwas gebückt erscheinen. Angeschlagen aussehen.“
Ich: „Das kann ich, weil ich es bin!“
Ich: „Und dann sagst Du ihr, dass Dir etwas Saublödes passiert ist und dass Du ihre Hilfe benötigst.“
Ich: „Soll ich die ganze Wahrheit erzählen?“

Ich schleppe mich in gebückter Haltung vor das Bullauge des Kassenhäuschens. Seit gut 20 Metern atme ich wie eine Flunder. Flacher geht nicht. Wenigstens wird mir wärmer. Mein Blick durch die kreisrunde Öffnung fällt auf einen Arbeitsplatz, der mir mein Sprachzentrum lahm legt:

„Ach Du Scheiße! Wer haust denn hier? Eine Wohngemeinschaft verlauster Vandalen oder eine Horde blinder Wikinger?“

Das mit der Wächterin kann ich vergessen. Aus dem Bullauge wabert ein faulig-süßlicher Gestank der Marke „Verwesung Plus“. Die Kopfnote erinnert an einen nassen Hund, der sich vor seinem Tod stundenlang in einem Kuhfladen gewälzt hat. Ich trete unwillkürlich zurück.

„Dass es so etwas unter Gottes Sonne überhaupt geben darf.“

Zerfledderte Zeitungen, zerrissene Zeitschriften, weißlich angelaufene Schokoriegel, eine zerfetzte Packung Hundefutter, Zigarettenstummel soweit meine Augen in diese finstere Höhle reichen, ein speckiger Bürostuhl mit angefressener Polsterung und ein paar lokale Umweltkatastrophen wie zwei angeschimmelte Milchkaffee-Gläser, eine offene Ravioli-Dose, die binnen weniger Tage von alleine laufen und vom Tisch verschwinden dürfte, jede Menge Elektroschrott in halbierten Pet-Flaschen, eine Warnweste auf einem Metallbügel, die einem ausgewachsenen Walross passen würde, an der aber die Reflektoren nur noch in Fetzen hängen.
Auf der linken Seite erspähe ich durch die angelaufenen Scheiben des Kassenhäuschens ein paar vergilbte Nacktfotos. Miss November ist darunter und einige magersüchtige Blondinen, die auf proll-protzigen Pirellis ihr Unwesen treiben. Ansonsten fällt mein Blick in die Menschenleere und meine Hoffnung auf eine Wächterin ins Bodenlose.

„Shit!“

Ich werde hier und jetzt zu niemandem etwas sagen. Gar nichts. Es ist keiner da. Keine Menschenseele. Keine Sau.

„Apropos Sau! Vielleicht sind es weder die Wikinger noch die Vandalen. Vielleicht ist es ein Parkhaus-Schrat. Eine üble Spezies: ein Teil Mann, vier oder fünf Teile Widerling!“

Mein Plan ist von allen Urinwinden verweht. Ich schaue mich um, recke den Hals, klopfe an das Panzerglas, lausche.

Ich (laut): „Hallo!“

Hier ist keiner.

Ich (lauter): „Hallo!“

Kein Schwein, keine suhlende Wildsau, kein Schrat und schon gar keine Wächterin! Das Parkhaus ist wie ausgestorben. Das Urinaroma klebt an mir. Penetrant! An der Rückwand des Chaoshäuschens flimmern ein paar Bildschirme. Nichts auf den Standbildern bewegt sich. Ich bin in einem Parkhaus-Friedhof gestrandet. Ein riesiger Sarg aus Beton, in dem ein paar verlassene Fahrzeuge und ich ihre Bestimmung suchen. Sonst nichts. Langsam verspüre ich den Drang, tief einzuatmen. Ein Schild, das mir sagt, wohin der Schrat verschwunden sein könnte, gibt es nicht. Weder links noch rechts! Noch oben! Noch unten! Nichts.

„Vielleicht ist er erstickt oder er markiert gerade sein Revier.“

Der Drang nach einem tiefen Lungenzug wird unbändig. Ich muss atmen.

Ich: „Nichts gibt’s! Keine Chance!“
Ich: „Stell Dich nicht so an.“
Ich: „Raus hier!“

So schnell ich kann, stolpere ich in Richtung Schranke zurück. Von der rechten Seite erleuchten zwei Werbebanner meinen Weg. Auf dem einen: „Die aufregende Show – unzensiert!“

„Ich bin schon mitten drin!“

Auf dem zweiten: „Lustvoll zubeißen! Nichts kann Sie aufhalten!“

„Ich will gar nicht wissen, wofür hier geworben wird!“

Einen Meter hinter der Schranke öffne ich Nase und Mund. Weit! Um die sechzehn Liter Sauerstoff fluten meine Lungen. Mit einem Atemzug. In Rekordzeit. Dabei stütze ich die Hände auf die Knie und keuche, als läge eine olympische Mittelstrecke hinter mir.

„Das war knapp!“

Langsam normalisiert sich meine Atmung. Kälte kriecht wieder in mich. Ich richte mich auf, schwanke leicht.

Eine männliche Stimme (warm, leicht schwäbische Breite): „Kann ich Ihnen helfen?“

Ich drehe mich zur Seite, ein Taxifahrer rückt in mein Blickfeld. Jung. Türkisch. Vielleicht noch tiefer aus dem Osten.

„Der hat mich sicher nicht angesprochen!“

Er lächelt. Freundlich. Beneidenswert dichtes Haar. Schwarz wie die Nacht. Seine Zähne blitzen aus dem Taxi wie eine Reihe kleiner LED-Lampen.

„Der arme Kerl hat einen Weihnachtsbaum verschluckt und jetzt hängt die Beleuchtung noch an seinen Zähnen.“

Ich (lächle zurück, vielleicht war er’s doch): „Stinkt das hier immer so pervers?“

Er (verzieht das Gesicht, lächelt dabei, sehr sympathisch, schwäbisch breit): „Nicht immer, manchmal ist es noch schlimmer!“

„Er war es wirklich.“

Er (lacht, ansteckend): „Das hängt vom Wetter ab. Wenn es kälter wird und die Autos die Wärme ins Parkhaus bringen, ist es kaum auszuhalten.“

Er grinst und zuckt mit den Schultern.

Ich (gedämpft, als würde ich ihm ein Geheimnis anvertrauen): „Ich habe meine Parkmarke verloren und in dem Kassenhäuschen ist niemand. Wissen Sie, was ich jetzt tun kann?“

Er (unerschrocken): „Da sind sie nicht der erste, und Bruno ist eigentlich nie an seinem Platz. Wahrscheinlich ist er vorne in der Eckkneipe und versucht, für seinen Hund ein paar Abfälle abzustauben.“

Ich (flüstere fast): „Nur für seinen Hund?“

Er lacht wieder. Herrlich. Ich lache mit.

Er (wendet den Kopf): „Dort an der linken Seite ist ein normaler Eingang. Dort finden Sie einen Kassenautomaten. Mit der untersten Taste können Sie die Zentrale anrufen.“

Pause!

Er (sieht mich direkt an, lacht wieder): „Und dort stinkt es auch nicht so!“

Ich (hebe die Hand zum Gruß, leicht zitternd): „Danke und frohe Weihnachten!“

„Netter Typ. Das muss ich sagen. Schwiegersohn-Potenzial! Ein Weihnachtsmann aus Anatolien.“

Als ich vor dem Kassenautomaten stehe, gibt es – bei geringer Geruchsbelästigung – fünf Tasten zur freien Auswahl. Die erste verstehe ich ohne Probleme: „Storno“

„Abbruch!“

Die zweite erschließt sich mir auch nach dreimaligem Lesen nicht: „Bei Einfahrt ab 18 Uhr wenn Sondertarif nicht gewünscht ist grüne Taste drücken.“

„Hä?“

Anmerkung des Autors: Ich habe keine Satzzeichen weggelassen. Ich schwöre.

Die dritte kann sich niemandem erschließen, denn sie hat keine Beschriftung.

„Selbstzerstörung?“

Bei der vierten gibt es wieder keine Probleme: „Quittung“

„Quittung!“

Bei Nummer fünf, der untersten, sind wir uns auch wieder einig: „Bei Störung bitte Ruftaste drücken.“

„Auch bei Parkmarkenverlust!“

Was mich stutzig macht, sind die drei abgedruckten Geldscheine über dem Zuführschlitz: Fünfer, Zehner, Zwanziger.

Ich: „Paul?“
Ich: „Lass mich in Frieden!“
Ich: „Das Tagesmaximum beträgt 18 Euro!“
Ich: „Hab ich auch gelesen!“
Ich: „Das gilt auch bei Parkmarkenverlust!“
Ich: „Ich weiß!“
Ich: „Du hast aber nur 14 Euro in Münzen!“
Ich: „Ich weiß doch!“
Ich: „Fünfziger nimmt die Maschine nicht!“
Ich: „Klugscheißer!“
Ich: „Das wird aber eng und Du bist selbst schuld.“
Ich: „Du nervst!“

Pause!

Ich: „Lass uns mal sehen, was passiert, wenn wir die unterste Taste drücken!“

Ich drücke! Dabei lese ich oben links – in der Anzeige für den eingeworfenen Betrag: „Ticket links unten einschieben!“

„Hab ich nicht!“

Ein Freizeichen! Es klingelt. Woher das Tuten kommt, kann ich nicht orten, aber so stelle ich mir eine Verbindung in die Steinzeit vor. Oder nach Übersee vor 80 Jahren.

„Wenn jetzt Bruno abhebt, werde ich umgehend zur Eckkneipe aufbrechen.“

Es läutet immer noch. Da! Eine Frauenstimme ertönt. Es ist nicht Bruno, aber sie krächzt, pfeift und knirscht. Ich tippe auf eine akute katarrhalische Entzündung mit jeder Menge „Sekretes“ in der Stimmritze. Nicht gesund.

Katarrh: „…kann…Sie…tun?“

Ich weiß nicht, wohin ich sprechen soll oder ob mich überhaupt jemand hört.

„Vielleicht werde ich ja von einer Kamera aufgezeichnet.“

Ich (ganz deutlich, zum Mitschreiben): „Ich habe meine Parkmarke…“

Weiter komme ich nicht. Kameras gibt es keine.

Katarrh: „…bitte…wart…“

„Das ist ja zum Mäusemelken.“

Ich (laut): „Hallo? Hören Sie mich?“

Katarrh (krächzt wieder): „Was…in…Anzeige?“

„Das ist doch ein schlechter Scherz!“

Ich (mit großer Geduld): „Ticket links unten einschieben!“

Katarrh (krächzt weiter): „…bi…warte…wir…techn…Proble…“

„Ach was!“

Eine innere Leere kommt in mich. In Zeiten wie diesen ist das keine Überraschung. Ich bin zum Nichtstun verdammt. Da fällt mir mein Smartphone ein. Vielleicht gibt es ja ein paar Neuigkeiten oder ich rufe das gedrillte Mädchen an der Rezeption an. Beim Griff in die Hemdbrusttasche meldet sich der Automat wieder.

Katarrh (etwas deutlicher): „Was…jetzt in der…zeige?“

Ich (langsam): „Was jetzt in der Anzeige steht?“

Katarrh (glockenklar): „Ja!“

Ich (selbst überrascht): „Da steht nichts mehr!“

Katarrh (knistert jetzt mehr, als sie krächzt): „Bitte…war…wir…ben…nische…leme…“

„Das glaub ich doch nicht. Wollen die mich verarschen?“

Ich (als ob das etwas bringen würde): „Hallo?“

Keine Antwort. Also doch der Blick auf das Display meines Smartphones: Nichts. Keine Neuigkeiten. Gar nix! Gut, es ist ja auch schon 21.13 Uhr!

„Mein Bett ruft jetzt ohne Unterlass!“

Die Minuten verstreichen wie von Zauberhand. An einem Kassenautomaten vorbei. Die innere Leere hat jetzt festen Besitz von mir ergriffen. Nichts rührt sich. Ich könnte mich übers Treppengeländer hinter mir stürzen und niemand würde es bemerken. Ich bin mir gar nicht sicher, ob in den nächsten 50 Jahren überhaupt jemand Notiz davon nehmen würde. Geruchlich wäre ich unauffällig. In diesem Parkhaus ganz sicher. Neben Bruno ohnehin!

Da, plötzlich: Frauenstimmen! Nicht aus dem Automaten.

Es schallt im Treppenhaus. Gekicher. Gegacker. Ich drehe mich um, beuge mich übers Geländer. Drei toupierte Haarteile wanken aus den Untiefen des Parkhauses zu mir herauf. Sie sehen mich nicht. Drei aufgetakelte Pelzträgerinnen. Von hinten unmöglich, ihr Alter zu schätzen. Der Stimmlage nach sind sie um die 50, aber nur, wenn sie ordentlich getankt haben. Keine 24 sind sie, wenn kein Alkohol dafür aber jede Menge Albernheit im Spiel ist. Als die Mädels, am oberen Treppenrand angekommen sind und in meine Richtung biegen, ist klar, dass Enthaltsamkeit für die drei Fregatten ein Fremdwort ist. 50 Jährchen sind geschmeichelt. Als sie mich sehen, verstummen sie abrupt. Ich rieche die Fahnen, bevor sie in Riechweite sind. Einbildung kann sehr real auf die Sinneswelt wirken. Jetzt lächeln sie. Warum auch immer. Schief. Mindestens drei bis fünf Cocktails zu viel. In dem Moment, in dem sie mich passieren wollen, meldet sich meine kranke Freundin aus dem Automaten wieder.
Katarrh (kreischt jetzt ein bisschen): „Was…steht…jetzt…eige…?“

Ich (bedeute den drei Kampftrinkerinnen mit einem Handzeichen, kurz anzuhalten und reiße mich in Sachen Deutlichkeit wieder am Riemen): „Nichts. Hier steht gar nichts!“

Die drei haben tatsächlich angehalten. Torkeln ein bisschen, halten sich aber tapfer aneinander fest. Gackern wieder. Ich zücke mein Portemonnaie und hole den Fünfziger aus dem Fach für die Scheine.

„Keine Ahnung, was die drei jetzt gerade von mir denken! Vermutlich nichts! Zum Denken dürfte zu viel Sprit im Blut sein!“

Katarrh (wahrscheinlich sitzt sie im Automaten und isst ein Pausenbrot): „Jetzt?“

Ich (staune wieder, erneut kurz vor dem schon einige Male zitierten Rand): „Außer Betrieb!“

Die drei neben mir starren auf den Schein, als würde er gleich anfangen zu singen.

Ich (leise, an alle drei gewandt): „Können Sie mir den Fünfziger klein machen?“

Fregatte 1 (gehüllt in ein graues Pelz-Imitat Modell „Zottel“, sicher die attraktivste der drei Cocktail-Fregatten): „Wir können ihn Dir zerreißen?“

„Sehr lustig, Mädels! Ein Brüller! Aber seit wann duzen wir uns?“

Alles gackert. Das flauschige Kurzhaarfell-Imitat Archetypus „Kanadische Wolfshündin“ schüttet sich aus vor Lachen. Ihre herbe Gesamterscheinung macht mir aber ein bisschen Angst. Ihr Lippenstift ist verschmiert. Scheint schon ein langer Abend gewesen zu sein. Der weiße Fancy-Look vom Schlag „Schneehase“ ist die Alterspräsidentin. Um die 60, aber fit. Rüstig. Sieht gewitzt aus. Sie hält sich am Geländer fest und stemmt sich gegen die fast umfallenden Kameradinnen. Ausgelassenheit vor dem Kassenautomaten.

„Super!“

Das Gegacker reißt nicht ab.

„Wenn sich Katarrh jetzt noch mal meldet, höre ich garantiert nichts.“

Die Wolfshündin (mit gesundem Bäuerchen): „Was willst Du mit den Schweinen, äh Scheinen?“

Die drei brechen wieder in schallendes Gelächter aus. Unser Taxifahrer aus dem mittleren Osten müsste gleich hier auftauchen.

„Hätte ich die drei nur nicht angehalten! Der Bäuerchenduft hängt in der Luft.“

Ich (warte bis die drei Luft holen, einigermaßen gedämpft): „Der Automat nimmt nur kleinere Scheine und ich habe meine Parkmarke verloren!“

Der Schneehase (zwinkert mir zu): „Komm doch mit uns. Scheiß auf die Marke!“

Ich (kann ich auch, zwinkere zurück): „Ich muss nach Hause, Ihr Lieben. Echt! Könnt Ihr vielleicht doch wechseln? Das wäre super!“

Zottel (löst sich von den anderen, wankt): „Wart mal, ich schau für Dich!“

Sie kramt in Ihrer Manteltasche. Ausgiebig. Plötzlich zieht sie eine Börse passend zu ihrem Yeti-Imitat hervor.

„Zottelchen!“

Ein sicherer Griff ins Fach für die Scheine und Zottel hat alles in den Pfoten, was ein Parkmarken-Loser so braucht. Ich strahle sie an, als hätte sie mir gerade einen Heiratsantrag gemacht. Die Scheine sind schnell gewechselt, und die drei Imitate trollen sich.

„Wie schön!“

Eine weitere Minute vor dem Automat vergeht. Nichts tut sich.

Ich: „Wie soll es jetzt weitergehen?“
Ich: „Keine Ahnung!“
Ich: „Wie lange sollen wir hier noch rumstehen?“
Ich: „Ich weiß es nicht!“
Ich: „Was soll der Scheiß?“
Ich: „Ich weiß es wirklich nicht!“
Ich: „Ich will nach Hause!“
Ich: „Wenigstens haben wir jetzt das passende Geld!“

Katarrh (aus dem Nichts, ohne Vorwarnung, ziemlich klar und deutlich): „In der Anzeige müsste jetzt 18 Euro stehen. Richtig?“

Ich: „Stimmt!“

Katarrh (gleichbleibend deutlich): „Bitte werfen Sie jetzt das Geld ein und verzeihen Sie die Unannehmlichkeiten.“

„Ich kann einen Zwanziger zwar nicht einwerfen, aber ich will jetzt mal nicht so sein!“

Der Automat reißt an meinem Zwanziger, als wäre er auf Entzug. Er rattert. Dann klimpern zwei einzelne Euromünzen ins Rückgabefach. Ich warte. Lange Sekunden vergehen.

Ich (ganz behutsam): „Wo kann ich die Parkmarke entnehmen?“

Katarrh (plötzlich wieder abgehackt, verzerrt): „Bitte…ahren…Schran…ücken…ast…ffnen…direkt…“

„Das ist stark.“

Wahrscheinlich sitzt Katarrh in Nordkorea und ist mit Tausenden solcher Kassenautomaten verbunden – in der halben Welt. Ein cleveres Geschäftsmodell. Vor allem, weil Katarrh niemals in dieses Parkhaus kommen muss.

21.25 Uhr!

„Mir reicht’s!“

Ich marschiere schnurstracks zu meinem Auto. Von dem Urindampf bekomme ich nichts mehr mit. Um 21.27 Uhr stehe ich an der Schranke! Bereit auszufahren. Ich kurble elektrisch die Scheibe nach unten! Das Taxi meines anatolischen Weihnachtsmannes vor dem Parkhaus ist noch da, aber leer.

„Hoffentlich funktioniert das jetzt! Ich habe die Schnauze so was von voll! Sonst komm ich – mit der gedrillten Schnecke von der Rezeption, mit Bruno, den ich noch nicht kenne, der Wolfshündin, Zottel, Schneehase und mit dem mittelöstlichen Weihnachtsschwaben – direkt nach Nordkorea. Ganz sicher. Ohne zu zögern.“

Ich drücke die eine Taste neben dem Schlitz für die Parkmarke, die ich nicht habe. Ich warte. Warte. Warte. Nichts.

„Das gibt’s doch nicht!“

Ich drücke erneut. Warte. Warte. Warte. Wieder nichts.

„Liebe Leute, gleich setzt es ein paar mächtige Hiebe. Dann raucht es gewaltig. Mir scheißegal, wo ihr gerade seid!“

Ich drücke ein drittes Mal.

„Gleich krieche ich in den Kasten!“

Eine Männerstimme ertönt.

Er (laut und deutlich): „Hallo?“

Ich (mir trieft der Ärger schon aus den Achselhöhlen): „In der Zentrale hat man mir gerade gesagt, dass ich an die Schranke fahren soll. Ich habe meine Parkmarke verloren und der Automat war defekt. Verstehen Sie mich?“

Keine Antwort. Die Leitung ist wieder tot. Im Rückspiegel rollt ein Fahrzeug heran.

„Das auch noch. Am besten ich steige aus, schließe den Wagen ab und gehe zu Fuß nach Hause. Ich bin bedient.“

Ich drücke ein viertes Mal. Lang. Ein fünftes Mal.

„Der hinter mir muss mich für einen Deppen halten.“

Nichts!

„Ich muss aussteigen.“

Ich: „Du musst aussteigen!“
Ich: „Einen Teufel werd ich! Und wenn ich die ganze Nacht hier stehe!“
Ich: „Steig aus, verdammt noch eins! Der Typ hinter Dir will auch hier raus.“
Ich: „Ist ja schon gut!“

Ich öffne die Wagentür. Vorsichtig. Der Abstand zum Parkmarken-Einsteckautomaten ist eng, zwänge mich Zentimeter für Zentimeter nach draußen.

Plötzlich – von rechts vorne!

Eine männliche Stimme (warm, leicht schwäbische Breite): „Bleiben Sie sitzen! Hilfe naht!“

„Die Stimme kenn ich doch!“

Der nette Taxitürke mit dem dichten Haar kommt um die Schnauze meines Fahrzeugs. Er wedelt mit einer Parkmarke. Ich erstarre! In der unbequemsten Aussteigeposition, die man sich vorstellen kann.

„Unfassbar!“

Er (als wäre es das normalste der Welt): „Ich habe eine Parkmarke besorgt, da ich mir schon dachte, dass man Sie im Stich lassen würde.“

Ich (völlig verdattert): „Was haben Sie?“

Er bedeutet mir, wieder einzusteigen.

„Er will tatsächlich an den Einsteckautomaten!“

Ich zwänge mich wieder ins Innere meines Fahrzeugs. Meine Tür fällt zu und ich sehe, wie seine linke Hand die Parkmarke einführt.

„Luzifer kann Linksausleger sein, wie er will, gegen eine solche Linke hat er keine Chance!“

Hinter mir hupt es! Zu Recht, wie ich meine! Die Schranke öffnet sich! Von Weihnachtsmannes Hand!

Ich (dankbar): „Was bekommen Sie?“

Er (noch wärmer, noch breiter, er grinst): „Nichts! Gute Fahrt und frohe Weihnachten!“

Es ist 21.33 Uhr und auf der Schranke lese ich beim Ausfahren eine Werbung einer Fluglinie:
„Auf zu den schönsten Zielen!“

Mein Bett!

Euer Paul

14 Kommentare zu „Der erste Reisebericht aus dem Nirgendwo – zwischen Ballsaal und Parkhaus

  1. Deine Geschichten haben mich sehr beeindruckt. Obwohl sie meist einfache Alltagssituationen darstellen und erzählen, schaffst Du es, mich sowohl zum Schmunzeln als auch zum Nachdenken zu bringen. Eine herrliche Beschreibung der SWAT-Breitlinge, schöne Wortspiele und eine Situation am Parkscheinautomat, die einem nur selbst passieren kann ;-).
    Die zynischen Mono(Dia-?)loge können vermutlich sehr viel mehr Menschen verstehen, als nur ich. Der Kampf mit sich selbst ist gut dargestellt und ich kann ihn immer nachvollziehen. Der Lesefluß ist mir auch nie verloren gegangen.
    Das liegt wahrscheinlich vor allem an Deinem Schreibstil. Ich finde es schwierig, ihn zu beschreiben. Aber diese Mischung aus einer sprachlichen Schlichtheit, umgangssprachlichen Einwürfen und genialen Wortspielen packt mich und macht mir Spaß zu lesen!
    Am meisten hat mich jedoch die Stelle mit der Rezeptionistin beschäftigt.
    Kurz vor Feierabend, in einer mechanischen Arbeitsweise, die uns unsere Umgebung nicht mehr wirklich wahrnehmen lässt. Und dann kommt da so ein Arsch daher und meint er müsse den Spaßvogel spielen! Genau das bricht komischerweise das Eis und offenbart eine Menschlichkeit und Freude, die keiner erwartet hätte. Fantastisch! Das ist nicht nur Deine Geschichte, das ist das Leben und so sollte es viel öfter sein.
    Ich danke nicht allein für die Unterhaltung. Auch gibt es etliche Werke, die zum Nachdenken anregen, doch beides zu verbinden ist keine leichte Aufgabe. Du hast es Dir vielleicht zur Aufgabe gemacht, in meinen Augen ist es Dir auf jeden Fall gelungen (und das nicht nur in diesem Text!).
    Ich werde mich auf jeden Fall noch ein bisschen weiter auf Deiner Homepage herumtreiben!
    Grüße & mach weiter so
    Dein Schneemann

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    1. Lieber Schneemann,

      ich komme jetzt erst zu einer Antwort, da ich sittenwidrig lang im Urlaub weilte.
      Sorry.

      Deine Sorgfalt mit der Du meine Texte gelesen hast, freue mich über die Maßen.
      1000 Dank dafür. Solcherlei Zuwendung ist es, für die ich schreibe. Schön, dass
      Du Vieles von dem, was ich erlebe, regelrecht nachfühlen kannst.
      Bleib mir treu und empfehle mich gerne weiter.
      Das nächste Mal antworte ich schneller :-)!

      Und jetzt alles Gute und schönen Feiertag
      Dein Paul

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  2. Hallo Paul,

    wir waren durchgehend amüsiert von deiner Erzählung, was uns auch nicht davon abhielt sie bis zum Ende gebannt durchzulesen. Wir wissen zwar nicht, ob es dir schon einmal genauso ging, aber wir konnten uns sehr gut identifizieren und fühlten uns ertappt in unseren alltäglichen Missgeschicken.

    Was vorallem sehr neuartig für uns war, ist die Art des Dialoges mit dir selbst. Es war einmal völlig neu, in einer Geschichte das zu lesen was einem wirklich in so einer Situation durch den Kopf geht. Wie beispielsweise die Situation mit der Frau an der Rezeption und dem Versuch als Zeitvertreib, alles auf dem Kopf lesen zu wollen.
    Die Abwechslung zwischen den Dialogen und der normalen Erzählung war sehr erfrischend und hatte die doch sehr lange Kurzgeschichte immer wieder aufgelockert.

    Die Sprache ist umwerfend und sehr verbildlichend, was in dem Leser ein richtiges Kopfkino verursacht. Du verbindest einen angemessenen Sprachstil mit einer Vielfalt an Wörtern, die im Endeffekt aber nicht hochgestochen wirken. Dadurch macht es einem wirklich Freude die Geschichte zu lesen.

    Uns hat es also sehr viel Spaß gemacht deine Gedanken über alltägliche „Unglückssituationen“ zu verfolgen und fanden es sehr amüsant uns immer wieder darin zu finden. Diese Art von Erzählung ist wirklich andersartig und deshalb sehr fesselnd.

    Grüße,
    Kichererbsen

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    1. Liebe Kichererbsen,

      na da bin ich aber froh, dass ich mit meinen Absonderlichkeiten
      in meinen Gedanken nicht allein bin.

      Ich hatte schon befürchtet, dass ich zum Arzt müsste, um mir mal
      die Synapsen neu verkabeln zu lassen.
      Das kann ich mir ja jetzt sparen, da es noch andere gibt, die
      Dinge auf dem Kopf zu lesen versuchen, wenn ihnen langweilig
      ist oder sie sich ablenken wollen.
      Ein echtes Geschenk, das ich mit diesem mentalen Defekt nicht
      allein rumgeistern muss. Vielleicht schreibt mir mal jemand
      von den Kichererbsen etwas auf, wobei er oder sie sich selbst
      bei einer solchen Absonderlichkeit ertappt hat. Das wäre schön!

      Für heute 1000 Dank und alles Gute Euer Paul

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  3. Ja, ich finde auch, eine ganz besondere Art von Wortakrobatik … Wörtertanz vielleicht zu sanft ausgedrückt?! Der Reisebericht und „Das Glück“ mit dieser herrlichen Ironie dabei …! Ich find’s toll! Ein schönes Wochenende!
    Lg HildChen

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    1. Liebes HildChen,
      das nenne ich mal eine zugewandte Behandlung, die Du mir da zuteil werden lässt,
      die mag ich mir gefallen lassen. Die geht einem unter die Haut. Als würde Dir
      jemand Finalgon auf den Lesenerv reiben! Tolles Gefühl! Danke dafür.
      Schönes Wochenende Dein Paul

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  4. Lieber Paul, ich bin so froh, dass du dein Abenteuer zwischen Ballsaal und Parkhaus gut überstanden hast und dem Ruf deines Bettes folgen konntest. Das bedeutet nämlich bestimmt, dass du uns bald mit einem neuen Abenteuer beglücken wirst. Denn was kann einen dunklen Winterabend mehr erhellen als mit dir zu reisen, mit dir in die marianengrabentiefen Abgründe der Menschheit zu steigen und beseelt wieder aufzutauchen, wenn man realisiert, dass alles, auf das es ankommt, nur in einem selbst liegt.Danke!

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    1. Liebe Bloggerin,
      in Deiner letzten Zeile breitest Du eine Wahrheit einschüchternder Größe vor uns aus:
      Das Glück, das Leid, die Angst, die Hoffnung, das Labsal, die Obhut, die Zuversicht, die Schwermut und nicht zuletzt auch die Liebe wurzeln, wachsen oder wuchern allesamt in uns selbst.
      Ob sie pfleglos vegetieren, kraftlos verkümmern, rastlose Dunkelgewächse sind oder ob wir uns selbst als die Gärtner unseres Seelenbeetes bestellen, ist allein
      der Freude überlassen, die in uns kommt, wenn wir an die Idee glauben, dass nur geerntet werden kann, was wir selbst gesät, umhegt und beizeiten gestutzt haben.
      Im Außen werden wir auflesen, was der Schein uns verheißt.
      Im Innen werden wir pflücken, was das Sein sich ersehnt.
      1000 Dank für das Düngen unserer aller Beete zu Jahresbeginn.
      Dein Paul

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    1. Lieber Blogger, das Lob gebe ich gerne an den Autor weiter. 1000 Dank. Am 1.Januar des neuen Jahres, spätestens ab 12 Uhr mittags, steht dann der zweite Teil der aktuellen Geschichte (vom Ballsaal ins Parkhaus) online. Danke fürs Dranbleiben, Teilen und Weiterempfehlen. Viel Spaß beim Lesen und hab einen guten Rutsch Dein Paul

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    1. Lieber Blogger! Bitte setze Dich immer auf einen Stuhl mit Lehne, dann kann ich Dich wenigstens nicht vom Hocker hauen! Dein Paul PS: Und Danke für Deine Unterstützung!

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  5. „Gestochen scharfe Bilder blitzgeschwängerter Ausläufer eigener Intelligenztiefs.“
    Was für ein genialer Satz, lieber Paul, und beileibe nicht der einzige!
    Ich will eigentlich nicht bis nächstes Jahr warten, um weiter zu lesen, werde mich aber brav gedulden und zwischendurch halt ein bisschen Weihnachten feiern 😉

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    1. Meine liebe Bloggerin, bei solcherlei Lob werden viele weitere Sätze versuchen, Dich zu entzücken. Ich Danke Dir und frohe Weihnachten für Dich. Dein Paul

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