Aus dem Unterholz der Dummheit – Kapitel 3 (Teil 1)

Liebe Leserinnen und Leser,

vorneweg:
Seit dem zweiten Kapitel (mit all seinen Fortsetzungen) haben wir zumindest eine vage Vorstellung davon, eine erste Idee, was ein Arschloch ist oder – im weiteren Sinne – auch sein könnte. Nicht, dass Sie Kapitel 2 dazu gebraucht hätten. Gott bewahre! Sich über das Wesen und die Eigenschaften eines Arschlochs klar zu werden, geht auch anders. Logisch! Selbst nur um sich die Fähigkeit anzueignen, arschlochiges (wahlweise: arschlöchriges oder arschgelöchertes) Verhalten – an sich oder an anderen – zweifelsfrei zu identifizieren, muss man das zweite Kapitel nicht gelesen haben. Dafür können Sie auch einige Kilometer durch von Arschlöchern frustrationsgetränkten Erfahrungsmorast waten oder das Unterholz der Dummheit mit der eigenen – mehr oder weniger scharfen – Intelligenz-Machete durchstreifen. Und ob es sich – mit all den dann gewonnenen Erkenntnissen – um aufgeblasene, abgelederte, ausgewachsene, autofahrende oder kinderquälende Arschlöcher handelt, dürfte selbst auf den zweiten Blick im ritzen- oder kimmenhaften Umfeld des Homo delicti nicht von Bedeutung sein.

Entscheidend aber ist:
Lebendige Geschichten mit formvollendet skizzierten „Arschloch-Charakteren“ – als großzügige Dreingabe eines arschlöchergebeutelten Erzählers – hängen wie bei einem geistreichen Witz von

  • der bitte nicht als zu gering einzuschätzenden Kunst der Erzählung,
  • einem entschieden gezogenen Spannungsbogen,
  • einigen möglichst haarnadelkurvigen Wendungen,
  • einer hoffentlich unvorhersehbaren Pointe und
  • dem persönlichen Erlebenshorizont des Zuhörers oder des Lesers ab.

Wir notieren also für diesen Reisebericht im Geiste:

  • „Das kenn ich doch!“,
  • „Das gibt’s doch nicht!“ und
  • „Ich werd‘ verrückt!“

Und was schütten wir bei der Begegnung mit Arschlöchern aus? Das Kraut? Manchmal! Das Kind mit dem Bade? Hin und wieder! Sein Herz? Eher selten! Glückshormone? Sicher nicht! Adrenalin? Jede Menge!

Und vergessen wir nicht:
Adrenalin ist ein Hormon, das Menschen kurzzeitig verändert:

  • Tunnelblick,
  • Überlebenswille,
  • Killerinstinkt,
  • Körpermehrgeruch,
  • Schmerzunempfindlichkeit und
  • Verschleiß.

Alles, was ein vollständig sozialisierter Homo Sapiens zur Freude seiner Mitmenschen so braucht.

Mit einem Satz im ironischen Geiste:

„Mit Adrenalin steht das Team im Vordergrund!“

Aber mal ehrlich:
Wenn Sie sich – nur um ein Beispiel zu nennen – alleine in einem fahrbaren Untersatz befinden, fernab jeder Sozietät, entkoppelt von guten Sitten und gesellschaftlich abgemachten Benimmregeln, jenseits von „Big Knigge is watching you“, können Sie sich den Freilauf gönnen, den der erwachende Neandertaler in Ihnen braucht. Sie können sich selbst von der Leine lassen, ein fröhliches „Leck-mich-Liedchen“ auf alle Konventionen Ihrer Stammesgruppe pfeifen und selbst zum Arschloch mutieren:

  • Alpha-Tierchen-Attitüden,
  • Silberrücken-Gehabe,
  • spitzzüngige Wutausbrüche,
  • anfallartige Revierbehauptungen mit Lenkradmalträtierungen,
  • unkontrollierte Gärprozesse und
  • alles, was Ihnen ein Magengeschwür, Sodbrennen, seelische Selbstverstümmelung, einen Herzinfarkt oder eine später schwer behandelbare Neurose erspart.

Sie dürfen (als einsamer Wolf hinter einem Lenkrad) mit einem Mal, was ansonsten jedes friedvolle Miteinander mit einem tumben Ego-Vorschlaghammer zerlegen würde.

Paul Stein empfiehlt für diesen Reisebericht:

  • ein bis zwei Eselsbrücken,
  • stahlseilige Nervenenden,
  • ein kleines Häppchen Entschlossenheit und
  • den unbedingten Willen nicht wegsehen, weghören, geschweige denn weglesen zu wollen.

Es folgt nun (aus einer Zeit der Kriminalitätsdämmerung):

Aus dem Unterholz der Dummheit – Kapitel 3
Der erste Reisebericht, der sich anschickt, böse zu sein.

Die Sonne geht im Osten Stuttgarts auf. Mein Adrenalin-Spiegel ist zu dieser Morgenstunde noch in der Aufwachphase. Ein Blick in den Rückspiegel zeigt mir, dass es früher als gut für mich ist.

5.25 Uhr. Spätfrühling.

Fünf Minuten sind seit Reiseantrittsbeginn verstrichen. Die Fahrbahn ist trocken, die Ampel rot, das Fahrzeug vor mir unverdächtig. Warum ich den Blick trotzdem durch die milchige Heckscheibe dieses Pkws bohre, weiß ich nicht. Vielleicht gibt es dort zu viel der Bewegung, vielleicht ist es nur eine schamlos gaffende Neugier, vielleicht ist es der völlig inhaltslose Blick intensiven Nicht-Nachdenkens.

Ich erkenne verschwommenes Gerangel, ruckartiges Reißen.

Ein schemenhaft jäher Hieb erweckt meine volle Aufmerksamkeit. Irgendetwas stimmt da nicht. Ich stelle meine Augen scharf und höre mich selbst sagen:

„Was ist da los?“

Ich sehe mehrere Hände. Mindestens vier. Ich sehe abwehrende, zerrende, niedersausende, schnelle, klammernde Hände. Ich sehe aber nur den Schattenriss eines Körpers im Fond. Ein Erwachsener. Sicher. Links. Rechts erahne ich nur Hände. Ein kleinerer Mensch vielleicht. Nur den Bruchteil einer Sekunde später realisiere ich:

„Es ist ein Kampf.“

Unerbittlich. Mein Magen krampft sich zusammen. Jetzt erst erkenne ich, dass die Hände auf der rechten Seite viel kleiner sind: ein Kind. Die rechte Fondtür wird heftig aufgestoßen und ich beobachte jene Hände, die sich gerade noch verteidigt haben, wie sie die Innenverkleidung der Tür umklammern.

„Unsere Fahrtrichtung ist Westen.“

Im Licht der aufgehenden Sonne meine ich weißverfärbte Knöchel von zwei etwa achtjährigen Händen auszumachen, am Türgriff verkrallt. Mein Adrenalin-Spiegel überspringt die Aufwachphase ansatzlos.

Tunnelblick
Die Ampel wird grün! Sehe ich nicht. Ein angedeutetes Quietschen anfahrender Reifen. Höre ich nicht. Der Mund steht mir offen. Spüre ich nicht. Die Selbstschließkraft einer trägen Autotür bei beachtlicher Beschleunigung wirkt, die Kräfte des Erwachsenen auf der linken Fondseite ebenso. Die Kinderhände lassen los. Die Tür schlägt zu! Ich bin gelähmt. Starre nur. Es hupt. Hinter mir. Ich schrecke auf. Die Ampel schaltet wieder auf gelb. Ich presche los und tippe mit zitternden Händen die 112 in mein Autotelefon.

Freizeichen!

Dann (weiblich, mechanisch): „Notrufzentrale!“

Ich sammle mich. Volle Konzentration. Meine Tachonadel zeigt schon 80 km/h. Innerstädtisch. Bergab. Der Wagen vor mir ist vielleicht 100 Meter weg. Entfernt sich weiter. Ich drücke das Gaspedal instinktiv durch.

Ich (voll fokussiert): „Mein Name ist Paul Stein. Ich bin auf der alten Bundesstraße 14 zwischen Fellbach-Lindle und Bad Cannstatt, Fahrtrichtung stadteinwärts. Mein Fahrzeug hat das Kennzeichen ZB-PS 6266. Ich fahre hinter einem silbergrauen Toyota, in dessen Fond ein Kampf stattfindet. An der Ampel Beskidenstraße habe ich beobachtet, wie jemand versucht hat, aus dem Wagen zu entkommen, und gewaltsam daran gehindert wurde. Ich vermute, dass dieser Jemand ein Kind ist.“

„Wie gut, dass ich ortskundig bin.“

Stille. 100 km/h. Der Wagen vor mir kommt nicht näher und dann: Blitz!

„Scheiße!“

Ein zweiter Blitz!

„Eine stationäre Radarfalle!“

Überlebenswille (nach einer stark verkürzten Schrecksekunde): Vollbremsung!

Erster Gedanke:
„Der Führerschein des Toyota-Fahrers hat sich gerade in Höchstgeschwindigkeit (so wahr ich hinter diesem Irren fahre) ins Land eines Idiotentests katapultiert!“

Zweiter Gedanke:
„Geschwindigkeitsüberwachungsanlagen sind fiese Prothesen geheuchelter Freunde und arglistiger Helfer.“

Dritter Gedanke:
„Dieses verdammte Teufelsding werde ich mit einer beeindruckenden Kettensäge…“

Diesen Gedanken bekomme ich aber nicht an sein böses Ende gedacht, denn er wird von einer Frauenstimme aus meiner Freisprecheinrichtung unterbrochen:

Sie (geschäftsmäßig, frostig): „Wo sind Sie jetzt?“

Bevor ich antworte, passiere ich den Blitzer – mit ordnungsgemäßen 50 km/h – der Toyota entfernt sich wieder. Volle Beschleunigung. Ich spüre das imposante Drehmoment eines Selbstzünders.

Ich (innerlich gespannt wie eine Krampenschleuder): „Höhe Nürnberger Straße. Immer noch auf der alten B14. Der Typ vor mir ist gerade mit 100 Klamotten durch den stationären Blitzer an der Nürnberger Straße gerauscht und ist etwa 150 Meter vor mir.“

Killerinstinkt
Ich gebe weiter Gas! Die Ampel vor mir wird dunkelgelb – mit einem leichten Stich ins Rötliche. Ich unterquere die vor mir liegende Eisenbahnbrücke.

Sie (ruhig wie ein polizeiliche Zeitansage): „Konnten Sie das Kennzeichen erkennen?“

Ich (mein Minutenzeiger dreht sich in der Geschwindigkeit des Sekundenzeigers): „Nein!“

Ich warte.

Ich (der Minutenzeiger überholt): „Sind Sie noch da?“

Sie (ein Meer aus Ruhe und Zeit): „Ja! Sehen Sie das Fahrzeug?“

Ich (drehe an meinem Uhren-Rädchen, um die Zeit wieder einzufangen): „Gleich wieder, nach der Augsburger Straße habe ich wieder Sichtkontakt.“

Ein bisschen Zeit für mich.

Ich: „Was wird das hier, mein Lieber?“
Ich: „Was meinst Du?“
Ich: „Bist Du unausgelastet?“
Ich: „Da braucht jemand Hilfe, verdammt!“

Ich: „Kleiner Kick am frühen Morgen?“
Ich: „Du weißt genau, dass das nicht stimmt!“
Ich: „Fühlst du dich nutzlos?“
Ich: „Da ist vielleicht ein Verbrechen im Gange!“
Ich: „Zu viele Krimis gesehen, hm?“
Ich: „Quatsch!“

Ich: „Ist Dir langweilig?“
Ich: „Ich will nur helfen!“
Ich: „Bei dem Puls, kann es doch nicht nur um ein Samariter-Nümmerchen gehen?“
Ich: „Warum willst Du mich jetzt ärgern?“
Ich: „Will ich gar nicht! Sag mir einfach, worum es hier geht?“
Ich: „Sag du’s mir! Du weißt doch immer alles!“
Ich: „Ich sag’s dir: du weißt es auf jeden Fall nicht!“
Ich: „Gar nicht wahr.“
Ich: „Du hast keine Ahnung!“
Ich: „Frechheit!“
Ich: „Gib’s doch zu: du zündest ein Handlungsfeuerwerk ohne einen Funken Grips.“
Ich: „Du kannst mich mal!“

Sie (macht keine Welle): „Dranbleiben!“

„Na, das ist doch mal ein Wort.“

Die Rechts-Links-Kombination an der Straßenbahnhaltestelle Augsburger Platz nehme ich, als wäre der Teufel selbst mit einer dreizackigen Neutronenbombe hinter mir her, und ich bleibe dran…

…und Ihr am besten auch, denn schon nächste Woche geht es weiter…

Euer Paul

PS: Und nicht vergessen: Empfehlt mich weiter, aber nur wenn’s beliebt und gefällt. Danke.

4 Kommentare zu „Aus dem Unterholz der Dummheit – Kapitel 3 (Teil 1)

  1. Guten Abend Paul, es ist immer wieder ein Vergnügen, deine geschliffenen Texte zu lesen. Besonders, habe ich schon mal erwähnt, die „Ich-Dialoge“. Köstlich. Und wie jeder gute Autor, so hörst du da auf, wo es so richtig spannend wird. Bin also gespannt auf die nächste Folge. D.h., die gestern angekommene, die ich leider versehentlich gelöscht habe. Wer ist im Wagen, den dein Protagonist verfolgst? Wie viele Strafmandate handelt er sich ein, dieser Gutmensch.
    Liebe Grüße und einen schönen Abend
    Paola

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    1. Liebe Paola,

      Deine Nachricht freut mich sehr, gibt mir aber auch ein Rätsel auf.
      Besonders Dein Lob für meine Inneren Dialoge legt den Finger auf eine
      meiner schriftstellerisch (wohlgemerkt!) erogenen Zonen. Wie kannst
      Du aber eine Folge auf meinem Blog löschen?
      Du musst nur die Fortsetzung von Kapitel 3 anklicken und dann erfährst
      Du auch, wie es weiter geht und (vielleicht auch) wer im Toyota saß,
      aber ich will Dir keine Hoffnungen machen.

      Liebe Grüße, bleib mir treu und schlaf gut
      Dein Paul

      PS: Wenn Du aber ernsthaft etwas gelöscht haben solltest;
      ich habe jede Menge Sicherungskopien…

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  2. Alleine die Einleitung hätte schon 5 Sterne verdient, und jetzt bin ich wieder etwas sicherer – du bist ein Mensch, denn ich habe endlich den ersten Fehler entdeckt (ich sag nicht wo, bin verkappter Sadist), aber ich liebe deine Selbstgespräche. Trotzdem kommen mir bei deinem hervorragenden Stil zweifel, ob du bei der Bundeswehr bist, oder da hingehörst 😉 Ich freue mich aber schon sehr auf die Fortsetzung 🙂

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    1. Lieber Arno,

      Danke, dass Du nicht aufhörst, mich (eigentlich mehr meinen Autor) zu loben.
      Das ist eben jene Zuwendung wie sie gerade an einem Sonntag besonders will-
      kommen die wundgeschriebene Seele streichelt. Dass Du mir – als verkappter
      Sadist – den gefundenen Fehler nicht offenlegen magst, ehrt Dich, legst Du
      doch weder meiner Lektorin noch meinem Autor die fiesen Fingerchen in die
      klaffende Wunde. Bleibt zu hoffen, dass Du der einzige bleibst, der das
      schriftstellerische Versehen sieht.
      Und nur um Dich zu beruhigen: Ich war bei der Bundeswehr, bin es aber schon
      lange nicht mehr und mit dem Tod Leonid Breschnews ausgeschieden…

      Schönen Sonntag und bleib mir treu
      Dein Paul

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