Liebe Leserinnen und Leser,
vorneweg:
Mancherlei Geschichten dürfen chronologisch erzählt sein. Andere sollten für besondere Spannungsmomente behutsam verschachtelt, in kleinen Dosen oder übersichtlich gestaffelt dargebracht werden. Wieder andere wollen nichts von einer inneren Ordnung wissen. Und dann gibt es noch jene, die bewusst auf jegliche Pointe verzichten oder die ihnen innewohnenden Überraschungen kampflos preisgeben.
In der folgenden Geschichte gibt es von allem etwas. Ohne ausgeprägte Rücksicht auf Ihre Lust-Verluste. Um dieses Abenteuer mit sechs Einschüben trotzdem zu bestehen, sollten Sie den Empfehlungen Paul Steins unbedingt Folge leisten.
Für diesen Reisebericht müssen Sie mit sich führen:
- eine Münze mit zwei Seiten,
- eine Holzfäller-Portion flegelhafter Schamlosigkeit, die mit Neugier kaschiertem Voyeurismus gleichkommt,
- eine Barschaft, die an ein Vermögen grenzt, was auch immer Sie dafür halten mögen,
- die unerschrockene Bereitschaft, einem sehr kleinen Vogel eine gusseiserne Pfanne auch von innen zu zeigen und
- ein bis zwei FCKW-freie Dosen „Beglaubigter Ungeziefertod“.
Es folgt nun (aus einer Zeit lange nach der Erbauung des Mont St. Michel):
Aus dem Unterholz der Dummheit – Kapitel 10
Der erste Reisebericht ohne ein einziges Windei,
mit einigen Wachteln und gehörig viel Walachei
Die Bretagne: Gezeitenwende, Regen, Nebel und der Wind. Ja, der Wind! Die hinterhältigste aller Naturgören. Bläst, heult, zischt, faucht, jault! Schrecklich! Ich könnte ihr immer wieder gehörig den windigen Hintern versohlen.
Zur Orientierung:
Meine dreiwöchige Urlaubsreise in den westlichsten Teil Frankreichs, die Anfahrt sowie die Abfahrt und die dazwischen mehr oder weniger dümpelnden Urlaubstage stehen – selbst in weichzeichnend verklärter Rückschau – für
- gut siebzig Stunden auf der kostenfreien RN*,
- viele sturmtiefe wie schlafflache Nächte,
- eine unerhörte Anzahl von schneidigen Windböen,
- Hektoliter um Hektoliter Niederschlag auf jeden französischen Quadratmeter und
- wenig urlaubend biestiges Allerlei.
Und alles im Beisein der herben Schönheit dieser trostlosen Halbinsel.
*Anmerkung:
Auf der Route Nationale „en France“ kann man die ruinöse Autobahnmaut (für frisch gebackene Abiturienten keine Kleinigkeit) gegen eine kostenlose Landstraßenfahrt eintauschen. Die Kehrseite der Medaille: Man fährt konsequent am Rande eines Nervenzusammenbruchs entlang. Aber dazu später mehr…
Was ich hier verloren habe?
Aus heutiger Sicht war die Idee dieser Individualreise nicht brillant. Eindeutig und zugegeben. Ob die angepriesene Schönheit der Bretagne so fabelhaft hätte sein können, um diese Reise zu rechtfertigen? Eher nicht. Ob ich in meinem blutjungen Überschwang einfach nur dickköpfig war und deshalb das ratschlagende Volk überhörte? Wohl eher doch! Aber niemand sollte mich verhöhnend einen Hasenfuß nennen.
„Mit seinen Freunden an die Côte d’Azur fahren, kann jeder. Dort an einem überfüllten Strand einer zünftigen Alkoholvergiftung entgegentrinken, auch. Alleine auf einem bretonischen Hügel stehen und den Wettergewaltätigkeiten (ein bisschen) zu trotzen, eben nicht!“
Aber das habe ich davon:
Ich stehe auf dieser Anhöhe – irgendwo in der nordbretonischen Walachei – und spüre die Macht dieser vermaledeiten Naturgöre. Der Sog der verwirbelten Luft lässt mich kaum atmen. Sobald ich den Mund auch nur einen Spalt öffne, füllt sich mein Rachenraum wie ein Ballon. Meine Wangen schlackern (trotz der 43 gut trainierten Gesichtsmuskeln) wie bei einer Sturzfahrt mit der Achterbahn. Ich stehe im 45-Grad-Winkel gegen den Wind. Mein Lungenvolumen beträgt zwei stramme Putzeimer.
Aufgepasst:
„Hier oben möchte man einen unvergesslichen Blick auf die umgebende Landschaft werfen.“
So weit der Reiseführer…
„So, so!“
Die humorlose Realität möchte dies partout nicht:
Sie jagt stattdessen mindestens die relative, gefühlt aber die absolute Mehrheit des Weltwolkenaufkommens so schnell und so unfassbar tief über diesen Landstrich, dass meine Sichtweite mit messerschlitzig zusammengekniffenen Augen großzügig geschätzt um die drei Armlängen betragen dürfte.
„Wer es hier schafft, einen unvergesslichen Blick zu werfen, sollte mit seiner Unverzagtheit unbedingt in die Politik wechseln oder zum Zirkus gehen.“
Aber lassen wir das. Vorerst. Mein Allgemeinzustand ist mittel bis schwer desillusioniert, kritischst pleite und butterweich – in Gedanken und Knien. Ein passender Zeitpunkt, um zurückzublicken:
Einschub 1
Sich auf den kostenfreien Staatsstraßen der „Grande Nation“ zu bewegen, heißt nicht automatisch, auch einen „Grande Eindruck“ von ihr zu bekommen:
- einspurige Verkehrsführungen (ein zähes Vergnügen!),
- mittelspurige Überholstrecken (so viel zum Rand eines Nervenzusammenbruchs!) sowie
- großspurige Hinweisschilder mit allerlei Anweisungen wie „Ralentissez“ (Aber wer will das schon? Gerade in seiner „Sturm-und-Drang“-Phase?).
„Hallo, ich bin noch keine zwanzig!“
Die Ewigkeit, die ich hinter einem französischen Lebensgefühl in Lastwagenform hertuckern darf, reicht selbst für einen vergnügten Abiturienten wie mich – mit guter Musik von Jim Croce und The Who in den Ohren sowie ausreichend filterloser Zigaretten im Gepäck – für ein halbes Dutzend ausgedehnter Flucharien.
„Eine ausladende Probe meiner Geduld.“
Der Laster selbst kommt mutmaßlich aus der französischen Steinzeit. Zwischen mir und dem rußenden Ungetüm befindet sich zudem noch ein holländisches Nummernschild. Gelb. An einem R4! Ein Renault!
„Ein entsetzliches Gefährt. Mit Revolver-Schaltung*.“
Gab es wirklich.
*Anmerkung:
Kein Mensch weiß, warum dieses Pkw-Debakel französischer Autobaukunst mit einem ebenen Wagenboden ausgestattet werden musste. Aber die Revolver-Schaltung hat immerhin den Weg dafür „freigeschossen“.
Die Entscheidung, mich doch irgendwann auf die Mittelspur zu wagen und mit satten 52 PS bei 5500 Umdrehungen pro Minute in meinem Kadett C Coupé (1,2N, Bj. 76 – für die Profis unter den Lesern) zu einem waghalsigen Überholmanöver anzusetzen, ist einer Ungeduld geschuldet, die man im Großraum deutscher Akkuratesse gerne mit einem gerade im Urlaub höchst überflüssigen Lebensmantra einmassiert bekommt:
„Zeit ist Geld!“
Als ich den Blinker setze ist es Zeit für einen mahnenden Dialog mit mir selbst:
Ich: „Man sollte die Jungs alle aus dem Verkehr ziehen.“
Ich: „Hey, wir sind im Urlaub.“
Ich: „Wir sind auf dem Weg dorthin.“
Ich: „Der Weg ist doch das Ziel.“
Ich: „Ich kann die Bretagne noch nicht einmal sehen.“
Ich: „Entspann dich!“
Ich: „Wegen dieser Pfeifen werden wir nie dort ankommen.“
Ich: „Sei’s drum! Wir wollen doch jetzt nicht nach Schuldigen suchen.“
Ich: „Wollen wir nicht?“
Ich: „Nein!“
Ich: „Und ob wir wollen!“
Ich: „Wollen wir auf gar keinen Fall!“
Ich: „Aber so was von!“
Ich: „Und?“
Ich: „Der Stinkelaster ist schuld!“
Ich: „Noch was?“
Ich: „Der R4 ist auch schuld!“
Ich: „Jetzt besser?“
Ich: „Das gelbe Nummernschild ist genauso schuld!“
Ich: „Das reicht jetzt!“
Ich: „Die Franzacken-Rakete auch!“
Ich: „Oh Gott!“
Ich: „Und der Bruder, der Vetter oder der Onkel von Frau Antje* ebenso.“
*Anmerkung:
Frau Antje war in den Achtzigern ein Promi niederländischen Molkereiwesens.
„Pikantje von Antje“!
Mit Zöpfen. Und einer weißen Sturmhaube. Mehr ein blonder Wikingerhelm. Und glauben Sie jetzt bitte nicht, dass das etwas Gutes bedeutet hätte. Wohin mich dieser Wechsel auf die Mittelspur bringen sollte, will ich Ihnen verraten:
„An den Abgrund eines angstrasierten Ruins!“
Der R4 schert mit mir aus. Zeitgleich.
„Idiot!“
Mit sage und schreibe 29 PS! Ein spiegelverkehrtes Abziehbildchen des „Fliegenden Holländer“.
„Verhängnisvoll: automobile Mickrigkeit überholt lasterförmige „L‘art de vie!“
Ich: „Diese verfluchte Murkskarre hat den Durchzug einer Singer-Nähmaschine.“
Ich: „Gib ihm etwas Zeit.“
Ich: „Weißt du, was solche Mittelspuren haben?“
Ich: „Was denn?“
Ich: „Ein Ende!“
Ich: „Jetzt mach mal halblang!“
Ich: „Muss ich nicht, das macht die Straße!“
Die erste Hälfte des immer riesenhafteren Lasters (gebaut in Lascaux oder in einer Nachbarhöhle) packen wir, der Holländer und ich, binnen weniger Minuten. Ich klebe an dem gelben Nummernschild.
„Alles noch in französischer Butter!“
Ich bin auf Halbgas! Gleich werde ich alle Pferdchen meines tapferen Kadett-Gefährten galoppieren lassen und den Holländer auch noch wegputzen. Ich kann es kaum erwarten. Plötzlich meldet mir mein innerer Steigungssensor, dass es leicht bergan geht.
„Verdammt. Dem Flachländer geht gleich die Puste aus.“
Die Erfolgsaussichten unserer „Ménage-à-trois“ schrumpfen rapide: Unsere Überholgeschwindigkeit geht gegen Null…
Ich (laut): „Gib Gas, Du Sack!“
Dabei übertöne ich sogar meinen 2-mal-4-Watt-Stereosound.
Ich: „Zu schreien bringt gar nichts.“
Ich: „Wir müssen uns jetzt entscheiden.“
Ich: „Was entscheiden?“
Ich: „Die Kuppe kommt immer näher.“
Ich: „Na und?“
Ich: „Sollen wir wieder hinter dem Laster und dem R4 einscheren?“
Ich: „Oder?“
Ich: „Wir ziehen das Ding jetzt durch.“
Ich: „Was durchziehen?“
Ich: „Das Scheißding wird immer langsamer.“
Ich: „Lass uns einscheren.“
Ich: „Wenn man aus der Geburtsstadt des „911er“ kommt, wird nicht gekniffen.“
Meine Hände umklammern das Lenkrad wie Eisenkrallen.
Ich (lauter): „Gib Gas, um Gottes Willen!“
Ich: „Bitte!“
Ich: „Wir fallen zurück.“
Ich: „Oh, nein!“
Ich (schreie): „Scheiße!“
Ich: „Wir müssen auf die dritte Spur raus.“
Ich: „Bist du übergeschnappt?“
Ich: „Was soll’s! Der liebe Gott hasst Feiglinge.“
Ich: „Wir werden sterben!“
75 Sachen, und ich schalte in den dritten Gang! Den Arbeitsgang! Die Drehzahl springt, der Motor heult auf! Ausscheren und Vollgas!
Ich: „Jetzt gilt’s! Lassen wir die 52 Pferdchen fliegen.“
„Gut, die Beschleunigung ist keine Offenbarung und wir bekommen auch kein Nasenbluten, aber diesem Zögling kiffender Wohnwagen-Fanatiker in seinem R4 werden wir es zeigen.“
Ich (schreie weiter): „Wir kommen!“
Ich stehe kurz davor, das Lenkrad abzureißen.
79 km/h!
Ich brülle wütend, stemme meinen linken Fuß in den Wagenboden neben das Kupplungspedal. Die Drehzahl steigt.
82 km/h!
Gleich bin ich mit dem R4 gleichauf. Das Fahrerhaus des Lasters kommt in Sichtweite. Ich drücke mein Gaspedal weiter durch, als es das Metall darunter erlaubt.
87 km/h!
Der Flachländer aus Antje-Land erschrickt beim Anblick meiner wedelnden Faust. Ich schiebe mich vorbei.
„Nicht aufgeben!“
Die Kuppe kommt immer näher! Eine weiße Linie auch! Durchgezogen!
Ich: „Gib Gas!“
Ich: „Mach ich doch!“
Ich: „Schneller!“
Ich: „Mehr geht nicht.“
Die vor mir liegende Kuppe gibt mir eine Überlebenschance von 75 Prozent!
94 km/h!
Jetzt gebe ich diesen Burschen den Rest!
98 km/h!
Meine Überlebenswahrscheinlichkeit beträgt vielleicht noch 50 Prozent. Die durchgezogene Linie ist jetzt neben mir. Der R4 und der Laster sind hinter mir.
103 km/h!
Ich: „Wir sind vorbei!“
Ich: „Sind wir?“
Ich: „Scher ein, um Himmels Willen!“
Ich schere ein – über zwei Spuren gleichzeitig!
An der Kuppe geht mein tapferer Hecktriebler (bei feuerrot vielen Umdrehungen!) in die Schwerelosigkeit. Die Federn hängen sich aus. Mein Magen auch. Apollo-Gefühl! Weltraum auf Frankreichs Landstraßen. Mir wird fast schlecht. Der Reifenabrieb geht gegen Null. Ich reiße hart in den vierten Gang. Mehr habe ich nicht. Ein Gefühl des Triumphes streift mein Herz. Im Rückspiegel sehe ich nichts außer der Endlosigkeit einer französischen Allee, die direkt aus dem Himmel zu kommen scheint. Die niedergerungenen Widersacher verbergen sich noch in der Anfahrt zur Kuppe.
Und vor mir?
Keine zwei Fußballfelder entfernt: Drei Fahrzeuge des Typs „R4“. Die Nummernschilder kann ich nicht erkennen, aber es sind keine Holländer, so viel ist sicher. Sie sind zweifarbig. Ich gehe ruckartig vom Gas, komme näher, noch ein Fußballfeld. Ich blinzle, weil ich dem, was ich erkenne, nicht trauen mag: Blauweiße R4! So etwas gibt es wirklich. Auf dem unbefestigten Seitenstreifen, quer zur Fahrbahn, hübsch aufgereiht.
„Drei mal 29 PS.“
Dann erkenne ich den Schriftzug (auf allen dreien gleichzeitig): Gendarmerie!
Ich (laut, erschrecke selbst): „Scheiße!“
Ein halbes Fußballfeld! Jetzt sehe ich auch eine Kelle, gehalten von mindestens vier Gendarmen.
Ich: „Eine kleine Horde wild winkender ‚Flics‘.“
Ich: „Steig auf die Bremse.“
Ich: „Sollen wir’s nicht lieber rechts über’s Feld versuchen?“
Ich: „Mit 52 PS?“
Ich: „Uns können die doch nicht meinen.“
Ich: „Gott bewahre!“
Ich: „Musst du dich auch noch lustig machen?“
Ich bremse stärker. Der Schweiß rinnt mir ins und aus dem T-Shirt. In Strömen. Die Kelle hört nicht auf zu winken.
„Verdammt!“
Ich (knurrend): „Ich seh‘ Euch doch.“
Der 16-Meter-Raum: Es staubt, und es riecht nach Frust. Er ist überall im Auto. Griffiger, stinkender Frust. 11-Meter-Punkt: Ich stehe! Im Staub einer Landstraße. Im Nirgendwo! Ich kurble die Scheibe herunter. Ein „Flic“ nähert sich. Bereit mich, „das Ding“, jetzt direkt reinzumachen! Seine Uniform ist R4-blau. Sein Anlauf wirkt entschlossen. Ich werde ihn „Le Bleu“ nennen. Das Adrenalin trieft mir aus den Augen.
Um es anschaulich zu machen – in vollem Französisch:
Le Bleu (ruhig): „Bonjour monsieur. Vous avez grillé la ligne blanche continue.“
„Mein lieber Freund, da klingt eine Menge „Grande Nation“ durch.“
Ich soll was gemacht haben?*
Ich (unschuldig): „Pardon?”
*Anmerkung:
Ohne Sie jetzt mit Einzelheiten zu langweilen, aber keine vier Wochen vor meinem Nationalstraßen-Parforceritt war in Frankreich ein Schulbus verunglückt, und Monsieur Mitterand, der ehemalige französische Staatspräsident, hatte kurzhändigst alle Bußgelder für Verkehrssünder satt vervierfacht. Ja, Sie haben richtig gelesen: vervierfacht! Auch für das Überfahren einer durchgezogenen weißen Linie.
Der Holländer passiert indessen mit feixender Langsamkeit die Straßensperre. Meine Innereien fühlen sich an wie eine größere Ansammlung wackerförmiger Nieren-, Gallen- und Blasensteine. Ich habe Schmerzen. Mir ist jetzt speiübel.
„Der Kuppe sei Dank!“
Le Bleu (immer noch ruhig): „Parlez-vous français, monsieur?“
Ich (leise, wiege den Kopf): „Oui!”
Äußerlich wirkt der nette Franzose in Uniform ruhig. Er ist sachlich und spricht betont langsam. Allerdings muss ich unkonzentriert auf ihn wirken.
Le Bleu (nachdrücklich): „Vous avez grillé la ligne blanche continue.“
Ich: „Klasse!“
Ich: „Den Satz kennen wir schon.“
Ich unterdrücke die Übelkeit und mit freundlich geöffneten Handflächen, etwas angezogenen Schultern sowie meiner besten Unschuldsmiene gebe ich mich selbst und mithin meine Landstraßen-Keuschheit zum Besten.
Ich (neige den Kopf, leise): „Grillé?”
Le Bleu deutet mit der rechten Hand hinter sich.
Le Bleu (ganz langsam): „F-R-A-N-C-H-I-S-S-E-M-E-N-T!“
Ich: „Wundervoll!“
Ich: „Das ist jetzt viel klarer.“
Ich: „Hast du dieses Wort schon einmal gehört?“
Der französische Gesetzeshüter bereitet mir langsam Sorgen. Sein insgesamt positiver Gesamteindruck verschlechtert sich zusehends: Er wirkt jetzt angespannter, sein Mienenspiel lässt Gereiztheit erahnen.
Ich: „Er könnte nicht mehr leugnen, dass er uns nicht mag.“
Ich: „Selbst wenn er wollte.“
Ich recke den Kopf in die Richtung, in die er zeigt. Eine Art versöhnliche Geste.
Le Bleu (säuerlich): „La ligne, Monsieur!”
Ich (wiege den Kopf jetzt stärker): „Pardon?*”
*Anmerkung:
Verzeihen Sie mir bitte die Selbstbissigkeit, aber auch ich lerne am nachhaltigsten über Schmerz: Ich kann es nicht lassen! Und da meine Zunge um ein Vielfaches schneller ist als mein Kopf, rutscht mir das Wort „Pardon?“ auch zu Unzeiten heraus. So auch jetzt! Die Mimik „Le Bleus“ friert ein und die Schärfe des Tons erinnert mich an ein ansehnliches Schlachtermesser.
Le Bleu (pfeilgerade heraus): „Six cents Francs, monsieur, ou nous confisquons votre voiture, compris?“
Zwei bis drei Einheiten Grimmigkeit schmiegen sich um das gefrorene Antlitz „Le Bleus“.
Aber haben Sie verstanden, was er will? Ich sag‘ es Ihnen: Er will 600 französische Francs*. Sofort! Oder die Burschen krallen sich meinen Kadett C (Coupé!).
*Anmerkung:
Umgerechnet waren das damals ziemlich genau 222 Mark! Ein Vermögen! Der Schmerz ist da. Ein letzter Versuch, mich lieb Kind zu machen.
Ich (lächle bitter): „C’était une blague?“
Im Deutschen hätte ich ihn sicher gefragt, ob er mich verarschen will, aber so gut ist mein Französisch nun auch wieder nicht, und so stellte ich nur die Frage, ob der liebe Polizist einen unsensiblen Scherz mit mir gemacht haben könnte…
Le Bleu (als hätte er nicht mich, sondern Medusa angeschaut): „Non, monsieur!“
Entweder ich überlasse einen beträchtlichen Teil meiner Schüler-Barschaft den Händen dieses Schergen, einer wegelagernden Staatsmacht, oder man beraubt mich meines Autos. Sie wissen schon: Kadett C (Coupé!)…
Ich: „Unser Auto konfiszieren? Geht’s noch?“
Ich: „Der hat uns am Sack.“
Ich: „Am französischen Arsch der Welt.“
Die Grimmigkeit von „Le Bleu“ ist nun purer Kompromisslosigkeit gewichen. Er reicht mir wortlos einen schmalen Streifen Papier durchs offene Fenster. Untereinander, auf Englisch, Holländisch, Spanisch und auch auf Deutsch steht dort zu lesen:
„Sie haben die Regeln des französischen Straßenverkehrs missachtet. Die Strafe, die Sie aufgefordert sind, unverzüglich zu entrichten, ist nur über ein französisches Gericht wieder einklagbar. Wenn Sie nicht bezahlen, werden Ihr Fahrzeug und Ihr Führerschein umgehend und bis zur endgültigen Begleichung Ihrer Schüld beschlagnahmt.“
Ich: „Schüld?“
Ich: „Da steht es!“
Ich: „Ich lese immer nur Schüld!“
Ich: „Genau!“
Ich: „Was soll das denn sein?“
Ich: „Keine Ahnung!“
Ich: „Der Holländer ist schüld!“
Ich: „Das kratzt Le Bleu nicht.“
Ich: „Der Lastwagen ist schüld!“
Ich: „Du wiederholst dich.“
Ich: „Nicht ich!“
Es ist zum Auswachsen, und so platzt es aus mir heraus.
Ich (viel zu laut): „Ich schülde Euch gar nichts!“
Le Bleu (kalt wie ein Stein): „Monsieur?“
Ich: „Wenn wir jetzt nicht einlenken, wird es ungemütlich.“
Ich: „Aber gehörig!“
Ich (kleinstlaut): „Oui, oui… Un moment, s’il vous plaît!“
Innerlich bin ich bitterliches Elend!
„Aber schüld bin ich nicht!“
Ich ringe mit dem Inhalt des Papierfetzens, als stünde dort das Datum meiner Exekution – und mit ein paar Tränen.
„Das auch noch!“
Ich (ein letztes Aufbäumen): „Ce n’est pas vrai?”
„Das kann doch nicht wahr sein!“
Le Bleu (fast lässig): „Mais oui, monsieur, c’est vrai.“
Ein riesiger Krater mit einer Tiefe von 600 Francs im ohnehin löchrigen Pennäler-Portemonnaie klafft auf. Meine Weiterfahrt wird eine Odyssee, so viel ist sicher:
- kein Geld mehr für eine ordentliche Unterkunft,
- kein Geld mehr für ein dünnes französisches Bier,
- kein Geld mehr – für was auch immer…
Schüld, schüld, schüld!
„Schlimmer kann es nicht mehr werden.“
Als ich aus dem Polizeistaub wieder auf die Route Nationale einbiege, bin ich 600 Francs ärmer. Zum Teufel damit! Damals wusste ich nicht, dass das größte Département in der Bretagne Finistère* heißt. Treffender hätte dieser Landstrich bei der jetzigen Urlaubsstimmung nicht heißen können.
*Anmerkung:
Finistère stammt vom lateinischen Finis Terrae – das Ende der Erde. Zwischen Quimper und Brest, die stattlichen Präfekturen des Nordens und des Südens dieser fuchs- und hasenverlassenen Einöde, gibt es so viel „herbe Schönheit“ zu bestaunen und zu entdecken, dass man den Römern diese verstörende Namensgebung nicht einmal verübeln kann. Diese Gegend liefert auch sparsamst geschätzt einem sehr gnädigen Gott genügend (nämlich unendlich viele) gute Gründe, ein Ende der Welt genau hier zu platzieren.
„Na also!“
Ende erster Einschub!
Und der zweite folgt alsbald…
Euer Paul
Hi Paul,
wie schön, mal wieder was von dir zu lesen!
Die richtige Lektüre zur Urlaubszeit 🙂
Wie immer pointiert, zum Mitleben, zum Mit aufs Gaspedal treten, die wahrscheinlich roten Gesichter der Les Bleus vor Augen.
Eigentlich brauche ich gar nicht selbst wegfahren 😉
Danke und alles Liebe, Kiki
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Danke, Kiki!
Ich denke, dass kein Bericht dieser Welt, das eigene Verreisen ersetzen kann,
aber es tut gut, wenigstens in der Nähe dieses Gedankens zu stehen. 🙂
Liebe Grüße und eine schöne Zeit wünscht Dir
Paul
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Lieber Paul. Hinreißend geschrieben auf allerhöchstem Niveau (Tschuldige, der musste sein) und mit so vielen feinen Spitzen, dass erneutes Lesen pas de probléme ist (ja, ich bin jetzt etwas widerlich), wie man so schön sagt. Auch ich hatte in den frühen 90ern das Privilége (ich weiß, es reicht) die Route National zu nutzen, von Metz bis La Rochelle, auf allen Straßenseiten die diese von Napoleon gebaute einsame Traurigkeit so hergibt. Diese baumlosen Alleen sind kerzengerade und werden nur von beblumten Kreisverkehren unterbrochen, an denen die Geschwindigkeit der anschließenden Landebahn angepasst werden muss. Auch wenn ich in nur 10 Stunden von Marburg aus dorthin fuhr und nicht angehalten wurde, war meine Strafe viel höher als deine, denn ich war mit meiner Frau unterwegs, die im Auto noch eisener geschwiegen hatte als Monsoir Bleu je hätte aussehen können und nie werde ich die frostigen Blicke meiner Geliebten vergessen, die mich selbst bei 38 Grad im Schatten erschauern ließen. Seit jener legendären Rekordfahrt, die selbst einem Sterling Moss Respekt abgerungen hätte, habe ich meinen Bleischuh in Rente geschickt und freue mich über jeden Renault der mich auf Urlaubsreisen überholt, es sei denn …, meine Frau fährt. Kompromisslos, hart, uneinsichtig und vornehm fluchend. Dein Arno …
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Lieber Arno,
Deine bilinguale Antwort ist schon einen lautstarken Zungenschnalzer wert.
Danke für Deine hingebungsvolle Art, meine Zeilen wertzuschätzen.
Da auf Ballhöhe mitspielen zu wollen, ist eine Herausforderung, der ich
mich an einem Montagmorgen kaum zu stellen vermag.
Der Inhalt allerdings lässt mir bestaunenswerte Flügel wachsen, meine ich
doch das eine oder andere Lob herauszulesen und das ist mir aus Deiner
Feder mehr als nur lieb und teuer. Danke dafür!
Eine Frage, mein Lieber, habe ich aber: Liest Deine Frau mit?
Hab einen fulminanten Wochenstart und genieße den Bleischuh in Deinem
Devotionalien-Schrank.
Dein Paul
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Guten Morgen lieber Paul, mein überschwengliches Lob ist etwas spröde versteckt und meine Frau liest zum Glück nicht mit, denn auch nach über 20 Jahren käme dann das Thema der wilden Raserei auf fremdländischen Straßen wieder auf und das wollen wir ja nicht *zwinker*, Dein Arno
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Paul, jetzt weiß ich weshalb ich, fahrende Frau 3 Wochen Urlaub machen kann mit vollem Portemonae und ihr Jungs schon nach 1 Woche wieder zurück müsst. Kopf Kino meiner Frankreichreisen war voll angeschaltet. Reise bitte, bitte weiter 😀
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Liebe Asta,
einerlei wie lange wir über Emanzipation reden, einige Fakten werden
wir wohl nie aus der Welt schaffen.
Und hier sind nicht die Naturgegebenheiten gemeint.
Ich schreibe über geschlechterspezifische Unterschiede, die eine
Gegenbewegung zur Gleichberechtigung der Frau förmlich aufdrängen
Der Mann ist tatsächlich an vielen Stellen im Nachteil und hat
auch im Umgang mit der Staatsmacht oft das Nachsehen.
Woher ich all diese Weisheit habe?
Ich lebe in einem Vielfrauenhaushalt und bewohne meine emotionale
Intelligenz betreffend die Wohnung unter dem Souterrain. 🙂
Schönen Sonntag
Dein Paul
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he he he .. man sollte sich 2 mal überlegen wann man wen überholt .. Schadenfreude ?? .. ein bischen .. Mitleid ?? .. en wenig … amüsiert .. köstlich
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Liebe Freundin,
das mit der Schadenfreude geht in Ordnung!
Ich war es selbst schuld!
Heute kann ich über mich schmunzeln und darüber,
dass Du Dich amüsiert hast noch 1000 Mal mehr.
Danke und hab einen schönen Sonntag
Dein Paul
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