Blindlings versehen

Da ist tatsächlich jemand,
der vor mir an der Reihe ist,
der aussieht,
als säße er schon Ewigkeiten hier,
den ich betrachte und beäuge,
als wäre eine Gewitterwolke neben mir.

Es ist ein Blinder neben mir,
der eifrig mit den Fingern liest,
der konzentriert den Kopf zur Seite dreht,
die Stirn in Falten legt,
als wäre der Horizont vor ihm ganz schwarz,
obgleich die Sonne weit, weit oben steht.

Er sieht mich an
und sieht mich nicht,
sieht nur mit Fingerkuppen in die Welt,
sieht Helden, Menschen und Verlierer,
obgleich die Finsternis sich um ihn stellt.

Dann lächelt er, als hätte er das Glück gefunden,
seinen Blick zum Himmel hoch erhoben,
um alle Menschen, alle Männer und die Frauen,
in seiner Welt für dieses eine Mal zu sehen –
alle, die dem blinden Mann vertrauen.

Er wundert sich von Zeit zu Zeit,
hält fragend Augenblicke inne,
senkt den Kopf und hebt ihn dann,
schaut zum Himmel auf,
und er lacht, so laut er kann.

Es verrinnen die Minuten,
ich vernehme die Unrast seiner Finger,
wir üben uns im Schweigen
ich vermag für ihn zu fühlen,
doch ich kann es ihm nicht zeigen.

Er stockt und wirkt erschüttert,
nimmt die Finger vom Papier,
sieht das Grauen drohend kommen,
sieht die Erde in Gefahr,
sieht die Burg der Helden eingenommen.

Er kehrt zurück zu seiner Schrift,
sucht die Stelle der Entscheidung,
findet sie und tastet dann mit angsterfüllter Vorsicht –
weiter bis zum nächsten Schock,
als nun der letzte Held zusammenbricht!

Er sieht traurig aus
und sitzt ganz still,
mutlos wirkt er, wie gelähmt,
weil er als Blinder Dinge sieht,
für die der Sehende sich schämt!

In sich versunken, wie benommen,
befühlt er jede Zeile neu,
kann gar nicht glauben, was dort steht,
traut einfach seinen Fingern nicht,
ist erschüttert, was in diesen Zeilen vor sich geht!

Er weint, es steht ein Wimmern zwischen uns,
ich sehe eine große Träne,
die als Zeichen seiner Traurigkeit,
– nass aus toten Augen quillt –
und die Menschheit ihrer Schulden zeiht!

Er wirkt wie aufgelöst,
ringt einen langen, schweren Kampf mit sich,
schluchzt einmal laut und verkrampft dann alle Glieder –
wir sind allein in diesem Zimmer,
und ich meine, wir sind Brüder!

Er steht auf und wankt mit einem Mal –
bis er seinen Stock ergriffen hat,
dann schreitet er voran,
ich öffne ihm die Tür, doch sage keinen Ton,
nicht weil ich nicht will, nein, weil ich nicht kann!

Nun ist er tatsächlich nicht mehr da,
der Bruder, der er für mich war,
alle Helden sind gefallen,
alle Menschen sind zerbrochen, nur ein Verlierer ist noch da,
dessen Klagerufe jetzt in blinder Einsamkeit verhallen!

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