Liebe Leserinnen und Leser,
vorneweg:
Kann es etwas Gutes bedeuten, wenn man in einer Maschine der Fluggesellschaft „Siberian Airlines“ sitzt? Einer Fluggesellschaft, der – in gerade noch sichtbarer Vergangenheit – versehentlich oder auch absichtlich (wer weiß das schon?)…
- ein Airbus (oder etwas in der Art!) gegen ein Beton-Hindernis prallte,
- eines ihrer Fluggeräte von einer ukrainischen Luftabwehrrakete (kann ja mal passieren!) abgeschossen wurde,
- eine Maschine nach einem Bombenanschlag (gerade dieser Tage ein heikles Thema!) verloren ging oder
- für eines ihrer Flugzeuge der NATO-Codename „Careless“ (ohne Scheiß!) gegeben wurde, obwohl diese Maschine auf den Namen „Tupolev 154“ hört.
Die unverblüffende Antwort (auf diese pikant detaillierte Einstiegsfrage) lautet: „Nein!“
„Zumal die Außenhaut dieses Luftfahrtobjektes kotzgrün ist.“
Für den folgenden Reisebericht empfiehlt Paul Eberhard Stein
- ein „absolutes Gehör“,
- einen Faible für die russische Sprache,
- eine Serviette von der Größe eines Tigerfells,
- ein Kanisterchen Baldrian und
- eine Magnum-Pulle „Saure-Gurken-Wasser*“ mit reichlich Milch für den erbrechenden Fall der erbrochenen Fälle!
*Anmerkung: Das letztgenannte Mix-Getränk (mit potenziellem Kultstatus!) hat für jedwedes Unwohlsein eine garstig ergebnisorientierte Wirkung. Paul Stein rät für den Verzehr dringend
- zur Beugung über eine keramische Ellipse,
- zu trauter Atmosphäre (mit sich selbst!) und
- zur größtmöglichen Schalldämmung.
Ein ungeniert kotzbarer Genuss (in seiner erstmaligen Anwendung!) mutiert in der fünften Wiederholung (mit diesem Gesöff!) zu einer wahren Sucht: nach gründlicher Reinigung von innen. Ein Innereien-Kehraus; Schlussphase einer spontanen Magensafteruption!
Bei dem kulinarisch heimtückischen Angebot auf dem bevorstehenden Siberian Airlines Flug ist dieser natürliche Notausgang eine Ultima Ratio und – unbedingt angezeigt.
Es folgt nun (aus der Zeit des postfrostigen Krieges):
Aus dem Unterholz der Dummheit – Kapitel 9
Der erste Reisebericht mit drei Brechreizen im Grünen und allerlei Anmerkungen
Für russische Leckermäulchen und jene, die gerne durch das tiefe Tal des „Probierens statt Studierens“ schlendern.
Wir befinden uns in der Luft. Flug S 7900 von Frankfurt-Main nach Moskau-Domodedowo. Flughöhe: ziemlich weit oben!
Ich: „Richtig appetitlich hier!“
Ich: „Was meinst Du?“
Ich: „Ich meine, dass Mütterchen Russland hier oben irgendwie einen schlechten Tag zu haben scheint.“
Ich: „Wegen der Schummerbeleuchtung?“
Ich: „Ja, aber vor allem wegen der finsteren Griesgrame rund um uns herum!“
Ich: „Wir sind anscheinend der einzige Nichtrusse. “
Ich: „Spaßvogel! Kosaken, Mongolen und Tartaren sind auch noch da.“
Ich: „Weißrussen, Usbeken und Turkmenen nicht zu vergessen.“
Ich: „Klugscheißer!“
Ich: „Wer hat denn angefangen?“
Alle Insassen dieses unheimeligen Flugobjekts sind so russisch, wie man sich die böseste Schwiegermutter von Mütterchen Russland nur vorstellen mag (in einem von Vorurteilen völlig vernebelten Hirn!): Passagiere und Bordpersonal sind hohl- wie hochwangig, wirken verstörend abgewetzt und sind deprimierend dauersauer.
„Ein abbruchreifes Gefühlsgemenge – vor allem für Frohnaturen wie mich.“
Ausgerechnet die Flugbegleiterinnen sind von so herber Grazie, dass sie mich wortlos in eine willensruinierte Gefügigkeit zwingen. Selbst die Bord-Durchsagen des Generalkapitäns sowie die Sicherheitsunterweisungen der unnatürlich aufrecht stehenden Uniformträger klingen nach geschliffener Militärdoktrin. Ich schrumpfe (währenddessen und unversehens!) auf die Größe all meiner ausgezehrt dreinblickenden Sitznachbarn, die, messerscharf rechts gescheitelt und mit einem Hauch rötlicher Armee um die Mundwinkel, aussehen, als hätten sie die letzten Jahre Rentiere im sibirischen Tschuktschen-Land mit bloßen Händen erwürgt. Wahre Entbehrungsmillionäre!
Ich: „Und es war doch ein ausgezeichneter Plan!“
Ich: „Mit dieser Fluglinie zu fliegen?“
Ich: „Immerhin liegt der Ablenkungsfaktor hier im tiefen Minusbereich.“
Ich: „Kein Filmangebot, kein Small-Talk, alle Zeitungen und Magazine in Russisch. Klasse!“
Ich: „Da können wir uns ganz auf unsere eigenen Unterlagen konzentrieren.“
Ich: „In schwarz-weiß!“
Ich: „Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not.“
Ich: „Wie in allen Krisen!“
Der erste Brechreiz:
Das erste lukullische Glanzlicht setzen grün verpackte Lutscher mit kyrillischer Aufschrift auf diesem Flug. Der grünliche Lolli-Stiel, meine fortwährend lauernde Vorsicht sowie das grüngraue Lächeln der gestrengen Air-Hostessen entflammen meinen Argwohn. Ich habe gute Lust, nach Geschmacksrichtung und Verfallsdatum zu fragen.
„Verstehen würde mich indes niemand!“
Rote-Armee-Lutscher anstelle von Bord-Champagner.
„Wie schön!“
Beim Abfriemeln der Papierrosette erkenne ich mein Unterbewusstsein in einer Drohgebärde:
Ich: „Du willst das Ding doch nicht in unseren Mund stecken?“
Ich: „Wohin sonst? In die Sitzritze?“
Ich: „Mach keinen Scheiß! Wir müssen niemandem etwas beweisen.“
Ich: „Feigling!“
Ich: „Notärzte sehe ich keine!“
Ich: „Wenn wir nicht lecken, können wir nicht schmecken.“
Ich: „Wie das schon aussieht!“
Ich: „Jetzt mach den Mund auf!“
Ich: „Auf keinen Fall!“
Ich: „Du sollst den Mund aufmachen!“
Mit größtem Widerwillen lege ich mir diese schwarze scharfkraterige Kugel auf die Zunge. Ein leichtes Würgen drückt meinen Adamsapfel nach oben. Ich schließe meine Lippen hermetisch um den Stiel. Alles ist dicht. Das fulminante Geschmackserlebnis setzt nach einer kurzen Verzögerung ein. Drei Sekunden. Maximal.
„Eine Mundhöhlengranate!“
Die extrascharfe Borschtsch*-Note nagelt meinen Geschmackshimmel an den Zungengrund!
„Biologischer Nahkampf!“
*Anmerkung: Borschtsch ist eine Suppe! Traditionell mit natursauer vergorener Rote Bete und Weißkohl zubereitet.
„Allein diese Beschreibung ist für sich genommen schon ein satter Tritt in die Magengrube.“
Die Zartbesaiteten dürfen den nachfolgenden Teil überspringen, denn der Autor kann und wird für nichts garantieren.
Borschtsch wird mit kleinen Pilzkraut- oder Fisch-Teigtaschen (wahlweise Sauerampfer) abgerundet. Erstaunlicherweise ist es – kalt serviert – eine Lieblingsspeise vor allem für die älteren Russen unter uns und für solche, die in schlechten Zeiten schon mal gerne leidensstark vorangehen wollen: wohlstandsverleidende Allesesser mit aschfahlen Pausbacken, um die Augenhöhlen ringförmig verdunkelt. Willensstark fürwahr!
Mein akutes Geschmackserlebnis in drei Schritten:
Schritt 1: Das leichte Würgen steigert sich. Der Magen krampft sich zusammen und presst mit Wucht mein schon halbverdautes Flughafen-Frühstück durch die Speiseröhre nach oben. Brutal. Die Augen weiten sich. Ein Sausen in den Ohren setzt ein. Ich beuge mich ruckartig nach vorne. Jetzt bloß nicht die Lippen öffnen. Der Lolli scheint sich aufzublähen. Würgen und Schlucken in einem. Maximale Selbstbeherrschung!
„Kotzen ist was für Schwächlinge.“
Allerdings sucht sich ein kleiner Teil doch einen Umweg: Wegen dilettantischer Atemtechnik oder wegen der schieren Menge aufschießenden Mageninhalts spielt dabei keine Rolle.
Schritt 2: Der Umweg geht durch den Nasenrachen, vorbei am Kehldeckel sowie an den Ohrtrompeten und schließlich durch die Nase selbst. Es brennt in allen Höhlen: Kiefer, Keilbein, Stirn! Ich reiße das grüne Tütchen aus der Tasche am Vordersitz und der ganze Rotz läuft mir über.
Schritt 3: Ich spucke den Lolli in die Tüte hinterher und hole tief Luft. Meine Umwelt habe ich ausgeblendet.
Ich: „Ein apokalyptischer Rachenreiter.“
Ich: „Du musstest uns das Ding ja in den Mund stecken.“
Ich: „Jetzt können wir wenigstens mitreden!“
Der kleine Vorteil:
Ich habe selbst nach einer Stunde noch etwas von dieser Geschmacksexplosion: Dank kleinerer Überbleibsel in all meinen Kopfhöhlen sind Geschmack und Geruch des Höllen-Lollis feste Wesenskerne meiner Sinneswelt geworden. Eine nachhaltige On-Board-Abmahnung.
Der mittlere Vorteil:
Ich kann mich zur selbstdisziplinierenden Ablenkung intensiv meinem Umfeld widmen. Ich sehe mich um: Die Tupolev macht einen mäßig gewarteten Eindruck.
Ich: „Wir sollten uns eine Flasche Wodka bestellen.“
Ich: „Zum Ausbrennen unserer Höhlen?“
Ich: „Besser für eine Notlandung hinter dem Ural.“
Ich: „Du und deine Phantasie.“
Ich: „Für das freudvolle Stelldichein in einem Flugzeugwrack.“
Ich: „Kannst Du das nicht lassen.“
Ich: „Wer lutscht denn freiwillig solche Lollis?“
Ich: „Deswegen müssen wir ja nicht gleich abstürzen.“
Ich: „Besser wär’s!“
Ich: „Wie bitte?“
Ich: „Bei all der muffigen Verdrießlichkeit an Bord wäre nichts verloren.“
Ich: „Jetzt hör aber auf!“
Ich: „Das nenne ich ‚Lichtlosigkeit in grimmigstem Umfang‘!“
Ich: „Willst du nicht lieber noch mal in der Tüte nach unserem Lolli schauen?“
Ich: „Wofür denn?“
Ich: „Ablenkung?“
Ich: „In den Untiefen einer Kotztüte?“
Ich: „Du wolltest uns doch diesen Spaß gönnen.“
Niemand hat Notiz von mir genommen, niemand schielt zu mir, kein abschätziger, kein mitleidiger Blick. Als wäre ich nicht da. Unbeobachtet richte ich mich wieder auf, sortiere mich. Ein Gang zur Bord-Toilette regelt den Rest.
„Fast!“
Die Raumhöhe dieser Klo-Kiste – großzügig geschätzt 1,78 m (für russische Halblinge oder sehr kleine russische Bären) – ist bei Luftlöchern und Turbulenzen ein Schabernack ausgesuchter Güte. Vor allem für Mitteleuropäer mit Gardemaß.
Ich: „Himmel noch mal!“
Ich: „Kann man das Ding nicht vorsichtiger fliegen?“
Ich: „Beim nächsten Luftloch holen wir uns eine Platzwunde.“
Ich: „Hast Du gesehen, wie viele Roststellen der Spiegel hat?“
Ich: „Nein! Ich sehe nur die Beule auf unserer Stirn!“
Ich: „Die seh‘ ich auch, aber – mal ehrlich – ist unsere Original-Hautfarbe grün?“
Ich: „Unmöglich! Das muss das Licht sein!“
Ich: „Wir sehen aus wie der Inhalt unserer Kotztüte.“
Ich: „Fehlt nur der Lolli!“
Was nach meiner Rückkehr jetzt noch nervt, ist der Sitz links von mir. Er lässt sich nicht mehr gerade stellen.
„Gleicht kommt es zu einem Höhen-Drama!“
Was nun beginnt, – und das ist wahrhafte Ablenkung – ist ein heiter ausgelassenes Kammerspiel. Ohne jede aufwändige Statisterie. Mit einer semikompetenten Feldwebel-Stewardess in der Haupt- und einem volldevoten Unteroffiziers-Steward in der Nebenrolle. Eine kafkaeske Posse: Gut ein halbes Dutzend Mal wird mein braver Nachbar* – nennen wir ihn der Einfachheit halber Dimitri – zunehmend zackig aufgefordert, er möge seinen Sitz in eine aufrechte Position bringen. Zumindest kann ich die Gesten und Mimiken der Laiendarsteller gefahrlos so interpretieren.
*Anmerkung: Bitte seien Sie versichert, dass Dimitri sein Bestes gegeben hat.
Als man Dimitri und mich anweist, uns zu erheben, treten der Steward und die Stewardess gemeinsam auf: zuerst debattierend, dann streitend, dann keifend. Unüberhörbar, auch wenn man kein Russisch kann: Ahnungslosigkeit trifft Lautstärke. Hilfs-Handwerker in einem Sitz-Instandsetzungs-Waterloo. Plötzlich wendet sich der weibliche Feldwebel an Dimitri. Ich trete einen Schritt zurück.
„Unter diese Räder wollen wir nicht kommen.“
Die Befragung verläuft schnörkellos (bilde ich mir ein): „Was haben Sie mit dem Sitz angestellt? Wie konnte das passieren? Was haben Sie überhaupt an Bord verloren?“
Dann führt man Dimitri in Richtung Cockpit. Ab.
Ich: „Ist Dimitri jetzt fort?“
Ich: „Sieht so aus.“
Ich: „Wohin hat man ihn gebracht?“
Ich: „In ein Arbeitslager.“
Ich: „Hier an Bord?“
Ich: „Wer weiß.“
Der Sitz neben mir ist jetzt verwaist.
Der große Vorteil:
Jede weitere, schneidig gerittene Oral-Attacke der mutmaßlich luziferischen Bordküche wird von nun an von meinen lokal anästhesierten Geschmacks- und Geruchsnerven mit größtmöglicher Gelassenheit quittiert. Eine Sinneslähmung hat auch etwas Gutes!
Eindeckzeit! Windschiefes Gangmobiliar (wahrscheinlich aus der Zeit von Katharina der Großen!) rauscht auf ausgeleierten Rädern klappernd, quietschend und mit hoher Geschwindigkeit zwischen den Passagieren hindurch. Der in mir immer noch nachdröhnende Lolli könnte abgelöst werden: Zeit für etwas oral-florale Abwechslung (zur Abmilderung darm-floraler Überraschungen!). Tischlein-Deck-Dich: zuerst das Tischtuch. Blendend weiß. Ohne Beanstandung. Dann: Säbelzahn-Pfadfindermesser (Klingenlänge: elf Zentimeter), gerade noch mundtaugliche „Heugabeln“ und (bitte festhalten!) Gläser aus richtigem Glas…
Ich: „Diese Airline pfeift ein ziemlich spöttisches ‚Was-kratzt-es-uns-Liedchen‘ auf die ganze nine-eleven-Paranoia!“
Ich: „Mit diesem Besteck könnten wir gleich drei Flugzeuge kapern…“
Ich: „…und mit dem Messer könnten wir uns einen Rohrstock aus Dimitris leerem Sitz schnitzen.“
Die Tupolev 154 schüttelt mich gut durch. Plötzlich klingelt ein Mobiltelefon.
Ich: „Hörst du das?“
Ich: „Ein Mobiltelefon?“
Ich: „Soll im russischen Luftraum möglich sein.“
Ich: „Du spinnst!“
Ich: „Kein Witz!“
Das Kabinenpersonal ist dank des militärischen Grundrauschens an Bord gut zu verstehen. Trotz eines beachtlichen Geräuschpegels. Die nun folgenden Abschnitte sollten Sie in völliger Abgeschiedenheit mit Ihrem Geiste paaren. Die Prüfung, der Sie sich damit unterziehen, verlangt so allerhand:
Eine weitere Bordbedienstete mit kyrillischem Namen auf einem grünen Namensschild (nennen wir sie, weil es gut zu merken ist, Olga) baut sich neben mir auf: Sie erinnert mich in Aura und Auftritt an einen russischen Kampfpanzer. Bundeswehrvergangenheit.
Ein angerosteter „T80“ vielleicht. Wenn es ihn auf zwei Beinen gäbe. Aus den Zeiten Breschnews und Honeckers. Den zwei Weg- und Knutschgefährten. Kommunisten. Saftige Bruderküsse in Ost-Berlin, in Moskau, im Kreml und davor. Hemmungslos. Aus reiner Schadenfreude möchte ich gerne davon ausgehen, dass die beiden vorher immer eine Siberian-Airlines-Lolli-Granate gelutscht haben.
„Wie schön!“
Zur weiteren Vereinfachung nennen wir meinen rechten Sitznachbarn „Iwan“, meinen linken (jenseits des Platzes von Dimitri und jenseits des Ganges) „Igor“.
Olga: „курица или говядина?“
Iwan: „говядина!“
Eine gräulich-grüne Einmannpackung, kurz EPa* genannt, wechselt den Besitzer.
*Anmerkung: EPa ist ein kleines Essenspaket, mit dem sich der Soldat (hier ein Reisender!) mindestens einen Tag lang ernähren kann. Gerade für den Fall, dass keine reguläre Verpflegung durch die Feldküche (hier die Bordküche!) möglich ist. Beispielsweise bei einem unbeabsichtigten Abschuss über dem Uralgebirge.
Olga: „курица или говядина?“
Igor: „говядина!“
Ein weiteres EPa geht über den virtuellen Tresen. Olga wendet sich jetzt mir zu: Wer geglaubt hat, dass bei größerer Nähe aus ihrer oxidierten Kantigkeit ein betörendes, straffes und frisches Juwel würde, findet sich in den unendlichen Weiten des Irrtums!
Olga (kühl): „курица или говядина?“
„Kleiner Spaß am Rande, meine Flugperle? Ich bin nicht rechts gescheitelt.“
Olga (streng): „курица или говядина?“
Ich sollte antworten, aber mich blockiert ein Gedanke:
„Das Arbeitslager!“
Olga (strenger): „курица или говядина?“
Ich (kleinlaut): „Sorry, I do not speak any Russian!“
Eine Sekunde vergeht, eine zweite Sekunde verstreicht, in der dritten neigt Olga den Kopf…
Olga (schürzt die Lippen): „английский?“
Ich (immer noch vorsichtig): „Sorry?“
Olga (der Waffenturm dieser Frau visiert mich an): „English?“
Ich (anfangsbelustigt): „Yes!“
Olga (als hacke sie einen Klotz): „Tschikk’norrbiff?“
Ich (kopfschüttelnd): „Sorry?“
Olga (setzt ein paar Hiebe hinterher): „Tschikk’norrbiff?“
Ich: „Gleich steh ich auf und geh ihr an die Gurgel.“
Ich: „Bitte jetzt keine Luftraumkrise!“
Ich: „Die will uns doch auf den Arm nehmen.“
Iwan und Igor fallen während der Unterhaltung mit Olga über ihre EPas her wie zwei Ameisenbären über einen Termitenhügel.
Ich: „Ruhig bleiben!“
Ich: „Ich verstehe keinen Ton!“
Ich: „Einfach nicken und lächeln.“
Olga (zerbröselt den Klotz): „Tschikk’norrbiff?“
Ich: „Weißt du, was die Tante fragt?“
Ich: „Ich habe keinen Schimmer!“
Ich: „Chicken or beef?“
Ich (in feinstem Russisch-Englisch!): „Tschikk’n!“
Der zweite Brechreiz:
Beim geschickten Öffnen (habe ich mir bei Iwan abgeschaut!) des mir „dargereichten“ Pakets erreicht mich der Anblick eines halben (sehr toten!) Hühnchens und ein Geruch, der mich den Atem anhalten lässt*. Ich weiß sofort, warum Iwan und Igor „говядина“ (Beef) gewählt haben! Von wegen lokal betäubter Geruchssinn! Vergessen wir den Lolli und konzentrieren uns nun voll und ganz auf – grob geschätzt – tausendjährige Eier. Die eitrig-gelbe und gallertartige Masse rund um das tote Tier riecht nach einem zwingenden Grund, auf der Stelle das Flugzeug zu verlassen.
„Zur Not auch ohne Fallschirm.“
*Anmerkung: Sollten Sie gerade an die kleinen Stinkbomben aus Ihrer Kinderzeit denken, so dürfen Sie an dieser romantischen Erinnerung gerne festhalten. Ich für meinen Teil mutiere in Sekundenbruchteilen zum Flachatmer. Der Verzehr dieser schlemmerhaften Lumperei verbietet sich. Anblick und Geruch sind die Herolde eines Unterweltgottes, den wir auch volltrunken nicht kennenlernen wollen.
„Der liebe Gott hasst Feiglinge!“
Ich: „Was soll die falsche Scham?“
Ich: „Bist Du übergeschnappt?“
Ich: „Wir müssen das Huhn nur großzügig aufnehmen.“
Ich: „Du bist wohl nicht ganz bei Trost!“
Ich: „Lange gefackelt wird nicht!“
Ich: „Nichts gibt’s!“
Ich: „Heugabel gut beladen.“
Ich: „Mein Aber ist größer!“
Ich: „Rein damit!“
All die Widerlichkeit löckt meine versammelten Stachel der Selbstbehauptung und der Selbsterhaltung wider jedes böswillige Bordküchen-Komplott.
Ich: „Jetzt nur nicht wieder brechen!“
Ich: „Es gibt keine Tüte mehr!“
Ich: „Die von Dimitri ist noch da!“
Es folgen Sekundenkriege auf kleinsten Schlachtfeldern.
„Dieses Hühnchen muss schrecklich krank gewesen sein.“
Im Kopf: Schlucken gegen Kauen…
Im Herz: Fluchen gegen Tränen…
Im Hals: Rülpsen gegen Kotzen…
Der schmatzende (nicht der schreckliche!) Iwan sowie der rülpsende (nicht der bucklige!) Igor flankieren die Schlachten. Ein erster Mitleidsblick brennt auf meiner Wange.
Der kleine Vorteil:
Der liebe Gott wird mich mögen!
Der mittlere Vorteil:
Mit jedem Bissen des kranken Hühnchens wächst meine Erleichterung, dass sich daran kein anderer mehr vergiften kann.
Der große Vorteil:
Mit diesem Akt der Selbstüberwindung habe ich mir jetzt einen starken Kaffee verdient.
Der dritte Brechreiz:
Wussten Sie, dass Russen ungern Kaffee trinken? Ich möchte jetzt keinesfalls billige Klischees über das russische Volk bedienen (z.B. trinkfest, tapfer oder staatsgläubig), aber warum das mir angebotene Gebräu mit Kaffee etwa so viel zu tun hat wie meine Vorstellung von Liebreiz mit der rostigen Olga, wirft Fragen auf, die zumindest in diese Richtung zeigen. Die nachtschwarze, bitumenähnliche Melasse fließt überraschend langsam in das porzellanene Gefäß vor mir. Der beißende Geruch (dieser Schleim muss in seinem früheren Leben ein Kampfhund gewesen sein) greift an meine Schleimhäute. Herzhaft. Wie eine gewaltige Überdosis Schnupftabak! Nebenwirkungen: kleinere Ohnmachtsanfälle, Verfärbung der Außenhaut (grün!), temporärer Kopfnebel, kurzzeitige Desorientierung.
Ich: „Trinken wird diesen russischen Teer doch keiner, oder?“
Ich: „Warten wir, bis er kalt und hart ist. Dann werfen wir damit die Bordfenster ein!“
Ich: „Das sieht dir ähnlich.“
Der kleine Vorteil:
Ich tagträume von russischen Lollis, die ich all jenen schenke, die ich nicht leiden kann.
Der mittlere Vorteil:
Ich stelle mir Dimitri vor, wie das kranke (tote!) Hühnchen an ihm vorüberspaziert und er es im Arbeitslager nicht essen muss.
Der große Vorteil:
Ich kann gelassen einen Schlussstrich unter die Zeiten ziehen, in denen ich Spinat für Teufelswerk hielt, und ich darf die menschliche Natur als ein Wunder annehmen. Als ein hartgesottenes dazu*!
*Letzte Anmerkung: Auf dem Rückflug gab es ein Wiedersehen mit Olga. Alles war so vertraut. Nach ein paar Tagen auf dem Roten Platz ist es an Bord dieser Maschine fast heimatlich: die Stimmung, die Scheitel, die Rollcontainer, das EPa – ein intensives Déjà vu! Nur Dimitri fehlt immer noch.
Und bitte glauben Sie mir: Als Olga vor mir stand und „Tschikk’norrbiff?“ fragte, wollte ich wirklich „Biff“ sagen! Ganz sicher! In feinstem Russisch-Englisch! Was aber aus meinem Mund kam, war (kleinlaut): „Tschikk’n!“
Und ich bekam die zweite Hälfte des kranken (schon lange toten!) Hühnchens.
Bis bald und alles Liebe
Euer Paul
Paul ich könnt Dir knutschen, Du hast genau meinen Flug von 2007 vom Flughafen Pulkowo St. Petersburg, nach Frankfurt geschildert. Genau die gleiche Maschine, eine Olga wie sie im Buche stand, doch eins muss ich sagen, eine so butterweiche Landung mit dieser ausgedruckten Maschine habe ich bei keinem meiner Flüge erlebt. Es heißt ja, dass die russischen Piloten eine Klasse für sich sind. (Y)
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Liebe Asta,
wie schön (und auch nicht), dass ich in Dir eine Schwester im kleinen
Leid habe, die gut nachfühlen kann, was sich so alles zwischen 2 Flug-
häfen abspielt.
Natürlich stellt dieser Reisebericht die Qualität der russischen Pilo-
ten keinesfalls in Abrede, da Du ja mit ihren Künsten und der butter-
weichen Landung um ein weiteres magensaftsaures Aufstoßen herumgekommen
bist 🙂
Liebe Grüße und schöne Pfingsten
Dein Paul
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Lieber Paul, ich liege in der Gangway und kringele mich vor Heiterkeit. Dabei kenne ich nur freundliche Russen, auch wenn diese nicht verstehen können warum wir Softwestis erst nach Sonnenuntergang trinken wollen. Dein Bericht lief wie ein großartiger Film mit Musik von Conti vor meinem inneren Auge ab. Grundsätzlich lehne ich russische Speisen ab, bei denen ich die Inhaltsstoffe nicht identifizieren kann oder diese überweigend aus schönem saftig tropfenden Fett bestehen. Bis zur nächste Reise, Arno 🙂
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AUF einer Gangway zu liegen, lieber Arno, gibt auch kringelnderweise
wenigstens noch die Möglichkeit, Dich zu entscheiden, ob Du hinauf-
oder hinuntergehen möchtest.
Bei meinem nächsten Flug in solch einem kotzgrünen Flugzeug werde ich
wohl auf die zweite Variante setzen.
Aber ich bin froh, dass ich andere Fluggäste vor einer Lebensmittel-
vergiftung bewahren konnte und das ist doch schon mal was.
Liebe Grüße und schönes Wochenende Dein Paul
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Und ich dachte immer, die als Lasagne (amerikanisch ausgesprochen „lasein“) benamste Köstlichkeit damals bei PanAm war das schlimmste, was man als Fluggast vorgesetzt bekommen kann. Aber das hier klingt noch heftiger.
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Oh, das war kein Spaß, so viel muss ich zugeben. Liebe Grüße und schönes Wochenende
Paul
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Bist wie immer ein Schatz, liebe Freundin! Ängstigen musst Du Dich nicht, aber ein Reserve-Spucktütchen am Mann oder an der Frau wäre niemals von Fehler 🙂 Dein Paul
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eine humorvolle und ein wenig beängstigende Schilderung eines sicher nicht ganz so perfekten Flug nach Moskau … herrlich … aber ehrlich .. ich bin froh nicht der Fluggast gewesen zu sein .. klingt da ein wenig Schadenfreude ??? … wenn ja sorry … mit einem Lächeln versehen ..
Freue mich schon auf die nächste Story …
Liebe Grüße Claudia 🙂
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