Aus dem Unterholz der Dummheit – Kapitel 10 (Teil 7)

Liebe Leserinnen und Leser,

vorneweg:
Auf der Reise durch die dichtesten Nebel seit der Erfindung der Milchglasscheibe finde ich am Ende doch das Lichtnur damit es keine Missverständnisse gibt.

Zugegeben:
Es braucht zwar viele zähe Minuten einer durchschnittlichen Ewigkeit, um den schimmernden Kern dieses Irrens durch die Finistère und ihre Nebenstraßen herauszuschälen, dennoch lege ich ihn frei: schnörkellos, unerschrocken und zu guter Letzt – in der Erfahrung dreier Lebensglieder:

  • Im Glied Nummer 1 – die Einladung:
    Man hat (Gott sei Dank!) nicht bei allen Essenseinladungen eine derart imposante Anzahl saufender, fressender, rauchender und grölender Bretonen um sich. Eine großherzige Mildtätigkeit unseres Schöpfers.
  • Im Glied Nummer 2 – die Lage:
    Man hat (Gott sei Dank!) nicht in allen Lebenslagen das Gefühl solch überragender Nutzlosigkeit; im Beisein unseliger Opfer in Wachtelgröße. Eine zweite Gnade des Allmächtigen.
  • Im Glied Nummer 3 – die Nachwehen:
    Man hat (Gott sei Dank!) nicht mit allen Nachwehen einzelner Lebensmomente automatisch vier apokalyptische Darmreiter auf alpiner Sinneshöhe in sich. Die gütigste aller Himmelstaten.

Jedes Erleben dieser Glieder gliche immer wieder aufs Neue einem Ausbelastungstest auf einem Höllen-Ergometer:
1) Ohne Sattel – aber man muss sitzen.
2) Ohne Pedale – aber man muss treten.
3) Ohne Ziel – aber man muss ankommen.

Blicken wir nun ein letztes Mal zurück in die Bretagne.

Meine Erinnerungen gehören einem Schuldirektor…

Einschub 7 (ein Tag und eine weitere Nacht)
Der Wind und der Niesel sind boshafte Zeitgenossen: sie pfeifen in den Ohren und sie nässen dich ein; hier in der Bretagne sind sie unerbetene Dauergefährten. Zu allem Überfluss sitzt Bruno starrsinnig in mir und wirft einen langen Schatten seines Trübsinns auf mein arg gebeuteltes Gemüt.

Mein Sichtfeld reicht bis knapp hinter die Motorhaube. Immer weniger Landschaft. Immer weniger Horizont. Immer mehr von einem soßigen Grau.
Mit jeder Haarnadelkurve seit Schloss Bran tauche ich wieder tiefer in die Nebel (und es sind viele!) der Bretagne ein. An dem uns wohlbekannten Schild „Hôtel“ halte ich an: Die Tanknadel verharrt angsteinflößend weit links!

„Eine Tankstelle muss her.“

Ein Kennerblick in die Karte: Mein momentaner Standort liegt wahrscheinlich an der nordöstlichen Ecke des Nationalparks „Armorique“. Ich gebe dieser groben Gelände-Orientierung eine 70-Prozent-Chance. Die Straße vor mir müsste damit die D11 sein. Also rechts halten und der Straße bis Callac folgen. Vielleicht 10 Kilometer geradeaus. Dort auf die D787 – und hoffentlich auf eine Tankstelle stoßen.

„Höchstens noch eine 46-Prozent-Chance.“

Dann vollgetankt weiter geradewegs nach Plogoff – an den Atlantik.

„Die Chance, jemals dort anzukommen liegt vielleicht bei 11 Prozent. Das ist der Plan. Ein vager Plan, aber ein Plan. Nach den Gesetzen der Stochastik unwahrscheinlich, allein ich habe keinen anderen.“

Mit dieser Räson am Rande zur Mutwilligkeit kann ich eine weitere Irrfahrt durchs nächste Wurmloch vielleicht vermeiden.Schloss Bran kenne ich ja schon. Mein Ziel war und ist der Atlantik.

„Mein ‚Polyglott‘ ist an allem schuld!“

Ich blättere noch einmal in dem Reiseführer an die Stelle mit dem unübersehbaren Eselsohr.

Aufgepasst:
„Absolut sehenswert ist die Pointe du Raz. Im Westen der Gemeinde Plogoff. Schroffe Klippen. Unvergessliche Eindrücke. Eine geheimnisvolle Gegend…“

Soweit der Reiseführer. Klingt verlockend. So, so!

„Wollen wir mal nicht zu mutlos nach vorne schauen.“

Los geht’s:
Mein Kadett rollt los. Not-Reserve!

„Warum habe ich – verdammt noch mal – nicht schon früher getankt?“

Auf der halb geteerten Straße reiht sich Nothaltebucht an Nothaltebucht. Wofür erschließt sich mir nicht, denn die Verkehrsdichte erinnert an den autofreien Sonntag am 25. November 1973.

Ich: „Wir fahren!“
Ich: „Na ja, fahren ist vielleicht etwas anderes.“
Ich: „Der Motor läuft, die Räder drehen sich. Ergo: Wir fahren.““
Ich: „Bei deinem Tempo heißt es kriechen, mein Freund.“
Ich: „Sei bloß still.“
Ich: „Du weißt, dass ich das nicht kann.“
Ich: „Schneller geht eben nicht.“
Ich: „Du bist ein Schisser.“
Ich: „Wir würden ein bretonisches Rindvieh selbst dann nicht erkennen…“
Ich: „Schisser, Schisser, Schisser.“
Ich: „…wenn es uns direkt auf die Haube springt.“
Ich: „Die bretonischen Rindviecher sind schon alle tot.“
Ich: „Ich sehe keine 10 Meter weit.“
Ich: „Von deutschen Straßenrowdys wie dir überfahren.
Ich: „Mach dich nur lustig.“
Ich: „Von der Straße geschossen.“
Ich: „Mehr als 40 Sachen sind nicht drin.

Ich: „Du fährst 40 Meter pro Stunde.
Ich: „Es ist maximal noch heiße Luft im Tank.
Ich: „Dann ist es doch egal, wie schnell du fährst.

Die Schwaden überqueren vor und hinter mir die Straße. Eine nach der anderen. Schließen mich ein. Manchmal überholen sie mich sogar. Fetzen links und Fetzen rechts. Aus meinen Lautsprechern dröhnt Christopher Cross „Ride like the wind“.

„Sponsored by fucking weather.“

Mit dem letzten Akkord erreiche ich Callac. Mein Orientierungssinn hat mich gerettet. Am Ortseingang tauchen zwei Zapfsäulen im Nebel auf. Deutlicher als vermutet. Nicht auf dem neuesten Stand der Technik. Französische Revolution oder davor, würde ich tippen.

Was soll’s! Hauptsache Sprit!

Eine Art landwirtschaftlicher Betrieb mit Garten-Center umschließt die beiden. Auf einem Schild entziffere ich das erlösende Wort: „Ouvert“ („Geöffnet“)!

Meine Rettung!

Es tritt auf: der Pompiste!

„Viel schöner als Tankwart.

Pompiste (grunzt, mehr als das er spricht): „Demat.“

„Erwartbar.

Er raucht. Gitanes Maïs.

„Was sonst.

An der Tankstelle.

Ich: „Ist das erlaubt?“
Ich: „Glaubst du, das juckt den?“
Ich: „Aber das kann er doch nicht machen.“
Ich: „Im wahren Leben augenscheinlich schon.“

Ich (zögerlich): „Bonjour.“

Seine Finger sind nikotingelb.

„Die sehen selbstentzündlich aus.

Der wortlose Tankvorgang mit der Gitanes-Glut direkt über dem Einfüllstutzen dauert locker eineinhalb Endlosigkeiten und kostet satte 160 Francs!

„Üppig!

Ein weiteres Loch in meiner Reisekasse – und kein kleines! Der Wind ist dank der Mauern des Garten-Centers nicht so schneidig.

Ich (unexplodiert, erleichtert): „Au revoir.“

„Keine Antwort.

Kurz nach dem Verlassen des schweigsamen und verschärft lebensüberdrüssigen Pompisten melden sich Nanettes Frühstücks-Briketts – und Bruno. Die einen liegen schwarz, schwer und quer in meinem Magen. Sie verlangen nach spürbarerer Erleichterung. Der andere schürt eine lodernde Feuersbrunst an meinen Magenwänden und diese verlangt nach umgehender Löschung.

„Noch nie war eine Nothaltebucht so wertvoll.

Beim Aussteigen denke ich an Äolus. Er ist wieder da. Hier draußen vermutlich immer noch. Stark ist er. Unerbittlich bläst er mir in den Rücken, als ich das französische Feld unter mir tränke. Mit reinstem Pastis! Das muss die Essenz der letzten Nacht sein! Es brennt am Auslass wie 85-prozentiger Urin.

„Bestialisch!

Hier wächst nichts mehr. Ich frage mich, ob es nicht besser wäre, mich auch gleich noch zu übergeben.

„Auf keinen Fall.

Jetzt auch noch den ätzenden „Pastiche“  durch die Speiseröhre zu jagen, wäre selbstverstümmelnd.

„Feste Nahrung muss her.

Mein Bio-Rhythmus liegt darnieder und die Nebel sind in voller Dichte zurück.
Zudem: Es nieselt stärker. Ich bin innerlich aus den Fugen.

„Ich hasse Bruno!

Zurück im Auto verschaffe ich mir einen Überblick über meine Feldwegs- und Wiesen-Mahlzeit.

„Spartanisch!

Sie besteht aus drei Gängen:

  1. Das angebissene Baguette: Es ist so alt wie der Urlaub und hat unverpackt und geduldig auf der Rückbank meines Kadett C (Coupé!) gewartet. Jetzt wird es in der bretonischen Walachei vollends verzehrt. Das Stück Brot ist so hart, dass ich Zahnfleischbluten bekomme. Bruno drückt mir beim Schlucken die Kehle zu und mit aller Macht an die Halswirbel.
  2. Die offene Dose Schinkenwurst: Sie hat einen weißlich schimmernden Belag. Ihr Antlitz ist so verdorben wie unverdaulich. Bruno bricht mir mit einem brachialen Würgreflex beim ersten Happen fast das Zungenbein.
  3. Das tote Wasser: Aus französischen Quellen. So tot, man bekommt Halluzinationen beim Trinken. Von Friedhöfen. Bruno leert die Flasche in einem Zug. Der gewaltige Brand ist fürs Erste gelöscht.

Für die Weiterfahrt habe ich mir eine bequemere Trainingshose übergestreift. Modische Ballonseide. Schwarz. So kommod und so weit, dass – neben Bruno und mir – das Wasser, die pelzige Wurst und sogar das felsige Brot darin Platz finden. In diesem unkleidsamen Ungetüm könnte ich wenden, ohne es auszuziehen.

Auf der Höhe von Châteauneuf-du-Faou – eine Stunde später – bin ich dann tatsächlich verloren. Ein Dutzend Blicke in die Karte helfen nichts.

„Hätte mich auch gewundert, wenn ich mich nicht verfranzt hätte.“

Da taucht ein Wegzeiger im Nebel auf und rettet mich: „Quimper!“

„Links rum und super!“

Ich: „Von wegen super. Spürst du das?“
Ich: „Klar spüre ich das.“
Ich: „Was ist das?“

Kennen Sie das Gefühl, wenn nach einem üppigen Mahl (ein selbstbissiger Spaß am Rande) urplötzlich bleierne Müdigkeit in einen kriecht? Wenn ich mich recht entsinne, ist der Blutfluss im Körper schuld: alles für die Verdauung, nichts für den Hirnapparat.

Zuerst fühlt es sich wohlig an, dann aber kommen Erschöpfung, Kraftlosigkeit und massive Dissoziation in mich. Die Welt trennt sich von mir. Sie spaltet sich ab. An der Kreuzung zwischen Erlebnis- und Erinnerungsspur sieht es in mir aus wie auf einer Großbaustelle. Mit drei sehr kurzen Nächten in Folge in den Knochen wundert das wohl niemanden:

  • Zuerst die nächtliche Fahrt in meinen Urlaub: ab 2 Uhr in der Früh,
  • dann die unvergessene Sturm-Nacht auf dem Campingplatz und
  • jetzt noch die legendäre Pastis-Nacht in Schloss Bran.

Völlig übernächtigt und jetzt noch betäubt vom bewusstseinstrübenden Wasser klebt mir mein physischer wie psychischer Leibesschaden mit Bewusstseins-Uhu die Lebensgeister in meine dräuende End-Dämmerung. Ein Delirium des Willens. Ein Siechtum der Sinne. Zusammen mit dem verdrießlichen Wetter kommt gewaltiger Druck auf die Augenlider und auf alles, was in mir noch am Überlebensrand ist. Eine Agonie. Da helfen auch das offene Fenster und die lautere Musik mal rein gar nichts. Außerdem fängt das Christopher-Cross-Band langsam an zu eiern*.

Anmerkung:
Ein altes Problem – vor allem mit den C-120igern. Die längste unter den Musikkassetten. Sagt Ihnen nichts? Dann sind Sie zu jung. Tut auch nichts zur Sache. Bei Bandstärken unter 10 µm neigen diese Speichermedien zur Eierei. Gerade nach häufigerem Abspielen. Bei dem guten Christopher, der mich schon auf der ganzen Fahrt begleitet, kein Wunder.

Ich bin so erschlagen, dass der Gedanke an ein Schläfchen am Straßenrand wie ein Magnet auf mich wirkt. Keine drei Wagenlängen weiter – mitten im bretonischen Matsch abseits der Nothaltebuchten – ist die Lehne des Fahrersitzes schon in Halbliegeposition. Alles, was ich noch höre, ist das immergrüne Schlummerliedchen von Persephone, meiner Schweinehündin: „Es ist nicht schlimm, dass Du ein Schwächling bist!“

Unbekannt viele Stunden später: Leichenstarre!
Meine verklebten Lider öffnen sich einen Spalt.

„Hat mich das Gesöff von letzter Nacht erblinden lassen?“

Mein Körper ist von Rost zersetzt. Ich bin gelähmt. Vielleicht „kryokonserviert“. Kennen Sie nicht? Bedeutet so viel wie „das Einfrieren von Organen und Organismen“. In meinem Kadett heißt es: Kryonik der Achtziger! Ich lag schon damals weit vor meiner Zeit: eingefroren – mit null Standheizung – mitten im bretonischen Ödland. Da kann man sich das schöne Geld für den flüssigen Stickstoff und den ganzen Bohai auch sparen. Wenn Sie sich also – hört sich nach einem Superplan an – unbedingt für die (sicher dankbare!) Nachwelt oder Ihren darniederliegenden Körper für eine schlauere Medizin aufbewahren wollen, ist die Mitte der Bretagne in einem Kadett C Coupé mit reichlich Pastis im Blut und verkommener Wurst im Bauch ein ganz heißer Tipp.

Ob meine Glieder jemals wieder gangbar gemacht werden können, ist offen. Ich kann mich nicht bewegen. In meiner Liegeposition und -temperatur sind bei ruckartigen Bewegungen Knochenbrüche nicht ausgeschlossen.

„Ich muss auftauen! – Das kann Stunden dauern.“

Zielkonflikt:
Es dämmert bereits, und eine Schlafstatt für die Nacht zu finden, wird keine Kleinigkeit. Allein das Geradestellen meines Sitzes ist eine Tortur ersten Ranges – für das rechte Schulter- und mein Idiosakralgelenk. Brutal! Nach einer handelsüblichen Unendlichkeit bin ich wieder fahrbereit. Meine linke Schulter fühlt sich an wie ausgekugelt. Ich starte den Motor. Die Tankanzeige lächelt mich an. Meine Lebensgeister erwachen schrittweise aus dem komatösen Schlaf. Der Wagen rollt an. Es dürften noch 15 Kilometer nach Quimper sein. Ich muss in diese Stadt, wenn ich schlafen und etwas Ordentliches essen will. Das Ortsschild begrüßt mich wie einen guten Freund. Nicht zu glauben, dass ich es bis hierher geschafft habe. Bruno ist eingeschlafen.

Nach einigen Straßenkreuzungen, die allesamt identisch grau, vergilbt und eintönig aussehen, gibt mir das Schild „Centre Ville“ eine Richtung vor. Ich halte Ausschau nach einer zivilisierten Person, die mir vielleicht helfen oder wenigstens einen guten Tipp geben kann. Hier muss es doch jemanden geben. Der Wind hat spürbar nachgelassen,  und es hat auch aufgehört zu nieseln.

Da! Auf der linken Seite. Ein Mann! So um die 60. Er steht allein am Straßenrand, als würde er auf etwas warten. Seine Erscheinung ist unauffällig, die Hände auf dem Rücken. Er ist passend zum Wetter gekleidet: Fahl in fahl. Die Haarpracht ist so übersichtlich am Kopf verteilt, dass es auch für stärkeren Wind unmöglich wäre, sie zu verstrubbeln. Ich halte an und kurble das Fenster nach unten. Mechanisch. Die linke Schulter schmerzt.

Ich (lächle und laut, über die Straße hinweg): „Bonjour!“

Er (erwidert mein Lächeln): „Bonjour!“

Ich (fast erleichtert, ob der unbretonischen Erwiderung): „Pouvez-vous m’aider, s’il vous plaît? Je cherche une possibilité pour dormir.“

Die Frage nach einer Übernachtungsmöglichkeit scheint seine Aufmerksamkeit zu wecken, denn zu meinem Erstaunen überquert er die Straße und kommt direkt auf mich zu.

Er (mit französischem Akzent): „Kommen Sie aus Deutschland?“

Ich (überrascht): „Oui, äh – ja! Genau? Hört man das?“

Er (schmunzelt): „Ein bisschen!“

„Gibt es denn so etwas? Ein Deutsch sprechendes Individuum in den verlassenen Straßen von Quimper. Unfassbar!“

Ich (langsam): „Wissen Sie, wo ich hier übernachten kann?“

Er (ohne Umschweife): „Bei mir!“

Mittleres Überraschungsdonnern aus meinem Inneren paart sich mit dem Gott der Wachsamkeit (so es ihn gibt …) in meinem Gehörgang. Der freundliche Mann sieht mich verschmitzt an, als könne er dem „Akt der Sprachlosigkeit“  lauschen. Er wartet. Geduldig.

Ich (vielleicht etwas zu lässig): „Ach was! Bei Ihnen?“

Er (locker): „Na klar! Ich wohne gleich dort vorn – in meiner Schule!“

Er weist die Straße hinunter. Ich blicke hinterher – durch den zwischenzeitlich sehr lichten Nebel – entlang der gelben Straßenbeleuchtung. Die Nacht ist fast da…

„In seiner Schule! Das ist total klar! Wenn der mich verscheißern will, muss er früher aufstehen.“

Ich (nachforschend): „Sie wohnen in einer Schule?“

Er (er lächelt breit): „Ja!“

Ich (lasse nicht locker): „Was ist das denn für eine Schule?“

Er (lacht freundlich): „Eine Grundschule. Ich bin der Rektor – und ein bisschen der Hausmeister!“

Grinst über beide Backen.

„Ein Schulrektor? Das denkt sich keiner aus. Soll ich es wagen?“

Ich (wacklig): „Haben Sie denn ein Zimmer?“

Er (nickt ginsend): „Sie können im Wohnzimmer schlafen!“

            „Soll ich ihn fragen, was er dafür will? Oder ob er so etwas des Öfteren macht?“

 Ich (stattdessen und lächle wacker dabei): „Übernachtung mit Frühstück?“

Er (stütz sich auf mein Auto und grinst weiter): „Was denken Sie denn?“

Ich (gebe mir einen Ruck): „Steigen Sie ein!“

Nachdem Bruno den Beifahrersitz geräumt hat und ich Karte, Reiseführer sowie anderen Müll auf die Rückbank geworfen habe, sitzt nun ein Rektor neben mir. Verrückte Welt. Wir fahren los.

Er (zu mir gewandt): „Ich heiße Pierre.“

Ich (deute auf mich): „Je m’appele Paul, monsieur le directeur!“

Er hebt bewundernd die Augenbrauen, als würde er den deutschen Dialekt nicht mehr hören. Ich danke ihm dafür. 500 Meter weiter halten wir auf Geheiß des Rektors an. Wir stehen vor einem eisernen Tor. Er steigt aus und öffnet das quietschende Ungetüm. Er gibt mir ein Handzeichen, dass ich einfahren soll. Ich lenke auf einen Schulhof. Meine Scheinwerfer beleuchten einen quadratischen Innenhof. Zwanzig mal zwanzig Meter. Nach dem Tor halte ich an. Pierre schließt das Tor wieder und kommt an meine Autotür. Er deutet auf eine kleine Parkbucht – neben einer Göttin*.

*Anmerkung:
Eine Déesse (französisch für Göttin). Ein Citroën DS. Hydropneumatische Federung. Innenliegende Scheibenbremsen. Gürtelreifen von Michelin. Einer der ersten. Schon damals Kult. Hat sogar als Leichenwagen fungiert. Ein Kracher.

Ich parke. Zwischen dem Schulgebäude und meinem Parkplatz befindet sich ein kleines Häuschen mit Außentreppe zur Eingangstür. Hochparterre. Ich schnappe meinen Rucksack und folge Pierre den Aufgang hinauf. Die Wohnräume wirken aufgeräumt. Alles sehr solide. Keine Hinweise auf Peitschen oder Ketten. Das Wohnzimmer selbst hat noch den Charme des Nierentischzeitalters. Pierres Nähe zur deutschen Kultur ist augenfällig: Asymmetrien. Resopalbeschichtungen. Tütenlampen. Cocktailsessel. Alles in gedeckten Farben – von beige bis braun. Es sieht unverdächtig bei Pierre aus. Ungefährlich. Ich entspanne mich Stück für Stück. Das Bad ist die Krönung: In der Mitte thront eine steinerne Sitzbadewanne. Die Einstiegshöhe ist nicht barrierefrei. Rechts hängt ein Allibert-Spiegelschrank – vermutlich aus der Vorkriegszeit.

Pierre (deutet auf die Wanne): „Paul, Du kannst alles nutzen, was Du brauchst. Fühl Dich ganz wie Zuhause.“

Ich (mit hoch gezogenen Schultern und ausgebreiteten Armen, schaue an mir herunter): „Das ist nett, Pierre. Ich habe es echt nötig.“

Pierre (verzieht die Mundwinkel unmerklich): „Ich weiß! Wenn Du etwas essen willst, findest Du alles hier in den Schränken. Ich muss noch etwas für die Schule vorbereiten. Kommst Du klar?“

Ich (lasse Schultern und Arme sinken): „Na klar, vielen Dank!“

Den kleinen Imbiss bestehend aus frischem Baguette, etwas unverdorbener Wurst und frischem Wasser nehme ich alleine, schweigend, in dankbaren Gedanken versunken und sitzend in der Küche zu mir. Was dann folgt, ist das Glanzlicht des bisherigen Urlaubs: Das Wannenwasser ist kristallklar. Märchenhaft! Eine jungfräuliche Quelle bietet sich mir dar. Als ich meinen Hintern in das brühheiße Nass eintunke, durchströmt mich ein voluminöses Hochgefühl. Glückshormone lassen meine Augen übergehen.

„Hier steige ich nie wieder raus.“

Die Breite der Wanne und die Breite meines Hinterteils sind wie füreinander gemacht. Presspassung! Diese Wanne hat auf mich gewartet. Heilige Waschungen. Wohlgerüche. Ich bleibe hier sitzen – 1001 Nacht. Ich schließe die Augen. Dann…

Es klopft! Ich schrecke auf! Wasser schwappt über den Wannenrand.

Pierre (laut, aus großer Entfernung): „Paul? Lebst Du noch?“

Ich (verstört): „Ja, ja, alles ok! Bin wohl eingenickt.“

Pierre (neckt – in meiner Aufwachphase näher kommend, durch die Tür): „Sieht so aus. Es ist nach neun.“

Ich (ziehe aufgestützt den Hintern aus der Wanne): „Je me presse.“

Als ich duftend und leicht aufgedunsen ins Wohnzimmer schwebe, grüßt mich Pierre aus einem der kultivierten Cocktailsessel mit einer lässigen Handbewegung.

„Verdächtig!“

Barfuß. Im Pyjama. Die Couch ist zu einem Bett ausgeklappt. Bettzeug ist liebevoll darauf drapiert.

„Das ist fast zu viel.“

Ein kleiner Schatten des Entsetzens legt sich auf meine Frische. Unruhe wallt in mir auf.

„Ruhig bleiben! Jetzt keine falsche Bemerkung.“

Pierre (erhebt sich): „Ich muss morgen früh raus. Hast Du etwas dagegen, wenn ich gleich ins Bett gehe?“

„Ich bin so ein Idiot. Zuerst die Vampire. Dann Schloss Bran. Und jetzt der Schänder von Quimper. Junge, Du hast eindeutig zu viele Filme gesehen!“

Ich (leicht belegt, mit einem Hauch von Schummeln): „Kein Problem, Pierre. Ich bin auch hundemüde!“

Pierre kommt auf mich zu. Der Pyjama ist garantiert vier Nummern zu klein. Hochwasserhosen. Halbärmel. Enger Schritt. Ich trete einen Schritt mehr zur Seite als nötig.

Pierre (streckt seine Hand aus): „So ein Sitzbad hat es in sich (lacht)! Wenn Du mich brauchst, ich schlafe am anderen Ende des Flurs.“

Ich ergreife dankbar Pierres Hand, und der nette Schuldirektor mit den deutschen Wurzeln geht an mir vorbei. Klopft freundschaftlich auf die Schulter.

Ich (gelöst): „Danke, Pierre, gute Nacht! Tausend Dank!“

Pierre (im Vorbeigehen): „Keine Ursache. Ich wecke Dich um sieben, wenn das in Ordnung für dich ist?“

Ich (schaue ihm in die gütigen Augen): „Das ist super. Bis morgen früh.“

Pierre (beim Rausgehen): „Schlaf gut!“

Ich (flöte mehr, als das ich spreche): „Du auch! Träum was Schönes.“

Als ich die Augen schließe, schmiegt sich die weiche Couch an jedes Körperteil.

„Wundervoll!“

Mein Glück ist kaum zu fassen: Nach einer sturm-, wachtel und rauchfreien Nacht holt mich ein einfühlsam schonender Weckruf aus Träumen so bunt und verlockend, wie es ein guter Urlaub verdient. Es folgt: Ein Frühstück nach meinem Geschmack. Gut, Pierre hätte das dick mit Butter und Marmelade bestrichene Baguette-Stückchen nicht in den dampfenden Kaffee tunken müssen, aber alles andere ist einen satten Zungenschnalzer des Genusses und der Begeisterung wert: Pierres Geschichten über seine Göttin (von Citroën!), seine Verbundenheit zu Deutschland, seine Mutter namens Martha, die aus Saarbrücken stammte, die „Elternzusammenführung“ nach dem ersten Weltkrieg hier in Quimper, seine Geburt 1921 eben hier, als viertes von sechs Kindern, und über seinen Traum, hier in dieser Schule – seinem Leben – auch zu sterben.

Als ich durch das eiserne Tor mein Grundschulhotel verlasse, sehe ich Pierre im Rückspiegel. Er hat die Hände auf dem Rücken. Eine Frage schießt mir bei diesem Anblick durch den Kopf:

„Gibt es wirklich nichts Schöneres, als die großartigsten Sehenswürdigkeiten unserer Welt zu erleben?“

Mein erster Impuls: „Doch!“

„Die nettesten Menschen zu treffen und sie über den Rückspiegel des Lebens für immer ins eigene Herz zu schließen, überragt den eitlen Drang bei weitem, die Tiefe eines Augenblicks durch die Flachheit eines Reiseführers zu ersetzen. Der Druck, dabei gewesen sein zu wollen, nur weil alle Tage und Nächte so schal und phantasielos daherkommen, darf nicht größer sein, als die Lust nach der Magie des eigenen Lebens zu suchen. Ja, zugegeben, einige Mühsal hat mich begleitet. Und ja, ich musste Wachteln essen, Gitanes rauchen und in einem Meer von Ungeziefer schlafen. Aber die Bedeutsamkeit des Wimpernschlags in Quimper – genau jetzt – liegt unter der Kopfseite meiner Lebensmünze. Versteckt! Und ich habe sie gefunden.“

Stille!

10 Tage später in Deutschland
Ich stehe vor meinem heimatlichen Haus und denke an heftige Böen, an einen R4, an dreispurige Straßen, „Fucking Weather“, Schloss Bran, Pastis, an bretonischen Liebreiz, „Demat“,  „Walachei“ so weit das Auge reicht, an das Meer, Nanette, Igor und an Pierre. Ich denke an die Macht stark bewegter Luft. Ich kann vor Dankbarkeit kaum atmen.

Ende siebter und letzter Einschub

Euer Paul, der seit dieser Zeit seiner Lebensmünze immer die Chance geben will, eine zweite Seite zu haben und der Euch dies für 2018 wünscht…

 

2 Kommentare zu „Aus dem Unterholz der Dummheit – Kapitel 10 (Teil 7)

  1. Es ist eine Freude, Dich – meinen treuen Freund – mit diesem
    Einschub etwas zu entspannen.
    Sei gegrüßt und komm gesund ins neue Jahr
    Dein Paul

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  2. Es ist so schön ruhig mitzufühlen, als Kontrast zu dem erwartungsreichen Erlebnis der vorherigen Nacht.

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