Aus dem Unterholz der Dummheit – Kapitel 10 (Teil 5)

Liebe Leserinnen und Leser,

vorneweg:
Ein Sturm, der wahrscheinlich letzte Winkel im Finistère (in der Bretagne), ein „Schloss“ namens Bran, eine Spontaneröffnung, ein mäßig femininer Doppelzentner, ein beachtlicher Buckel, ein Igor – und ausgerechnet ich.

Eine Ausgangslage, an einem Hoteleingang auch eine ‚Eingangslage‘, wie man sie sich schöner nicht malen könnte.

Die Besitzerin des weiblichen Oberlippenbarts drückt das massive Portal gegen die hereinbrausende Sturmbö hinter mir zu. Ein Unterdruck entsteht. Die Bilder in meinem Kopf stürzen wie eine Sintflut über meine sonst so schwerelose Natur. Nichts mehr rahmt mir die Phantasie. Nichts mehr erdet mich.

Einschub Nr. 5

Igor steht da und sieht neben der drallen Üppigkeit seiner Herrin aus wie die bretonische Antwort auf Marty Feldmann.

„Sind die beiden ein Pärchen? Haben die beiden Kinder? Was kommt heraus, wenn der mickrige Bucklige und die opulente Hausherrin kopulieren? “

Ich: „Hör schon auf!“
Ich: „Was denn?“
Ich: „Was wohl? Mir wird schon ganz schlecht.“
Ich: „Ich kann das nicht stoppen.“
Ich: „Du meinst, du kannst nicht aufhören zu denken?“
Ich: „Wir, bitteschön!“
Ich:
„Meinetwegen! Wir!“
Ich:
„Genau, das meine ich.“
Ich: „Du musst doch nur an etwas anderes denken!“
Ich: „Fang doch selber an.“
Ich: „Wenn das so einfach wäre.“
Ich: „Siehst du!“
Ich: „Schau dir die beiden doch mal an.“
Ich: „Genau.“
Ich: „Wie in einem schlechten Film.“
Ich: „Schlechter! Und jetzt pol du doch mal die Denkrichtung um, wenn du so schlau bist.“
Ich: „Als wären wir durch die Raumzeit gereist.“
Ich: „Wären?“

Plötzlich strafft Igor den buckligen Rücken und erhebt die Stimme. Er durchbricht meine Selbstanziehungskraft: „Autoschlüssel?“

„Was will der mit meinem Autoschlüssel?“

Meine Phantasie baut die nächste Drohkulisse um meinen Horizont: Ein Buckel mit Kopf, mit einem fettigen Säbelzahn-Scheitel darauf, der mit Mühe zur Unterbrusthöhe seiner Rubens-Vampirin reicht, ein lächelnder Waschzuber auf zwei Beinen daneben und ein Autoschlüssel, den ich ums Verrecken nicht hergeben werde.

Das sprengt mir die Erwartung.

Wenn ich hier auch nur einen spitzen Zahn sehe, bin ich weg. So schnell können die nicht „Blutkonserve“ sagen. Da reicht schon ein Hund der Rasse „Spitz“ oder ein Foto von Mark Spitz, dem schwimmenden Olympia-Sieger von 1972, und die sehen mich nur noch von hinten! Ganz sicher!

Einladen wollen die mich? So, so!

Ich: „Hat man so was schon gehört!“
Ich: „Er will den Autoschlüssel“
Ich: „Nichts gibt’s!“
Ich: „Nicht von uns!“
Ich: „Da müssen die hier schon früher aufstehen.“

Unter der Deckenlampe des Entrees wirkt der Damenbart dichter. Ich bin fasziniert. So etwas tragen sonst nur absonderliche Gestalten in Männerkörpern. Das hat mit Testosteron nichts mehr zu tun.

Aber wenn es im falschen Körper sein Unwesen treibt, ist es eine üble Sache.

Großporig kommt die etwa 50-jährige Mademoiselle daher und sie erklärt mir lächelnd – nicht unsympathisch, das muss ich ihr lassen, dass sie auf den Namen Nanette hören würde.

Ich: „Nanette?“
Ich: „Nicht ihr ernst!“
Ich: „Das ist ja ein Schicksalsschlag.“
Ich: „Stell dir Zeus mit dem Namen Lulu vor.“
Ich: „Ein olympischer Gott kann unmöglich Lulu heißen.“
Ich: „Tragisch!“

Nanette ergreift meine reflexartig ausgestreckte Hand, als gäbe es an ihr etwas zu melken. Meinen Namen Paul quittiert sie mit einem Nicken, und dabei schaut sie mir in die Augen, als hätte sie vergessen, dass sie mich erst seit fünf Minuten kennt. Ihre Präsenz lässt mir die Gänsehaut durch das Sweatshirt wachsen. Sie stellt mir Igor als Charles vor.

„Französische Namensgötter, sofern es welche geben sollte, sind Widerlinge.“

Nanette erklärt mir, dass der werte Gatte, was allen Phantasien neues nahrhaftes Futter gibt, nur mein Gepäck aus dem Auto holen wolle. Mein Unwohlsein zwingt mir ein Kruzifix und eine Knoblauchkette auf den Wunschzettel für diese Nacht.

„Gestern Nacht war dieser Wisch voll von Männerwünschen.“

Ich (ohne nachzudenken): „Der Schlüssel steckt!“

Sie (lächelnd): „Kommen Sie mit. Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer!“

Ich (kleinlaut): „Verzeihen Sie, aber was soll das denn kosten? Die französische Polizei hat mich gestern ausgeraubt, und ich kann mir ihre Gastfreundschaft vielleicht gar nicht leisten.“

Wenigstens ehrlich will ich sein!

 Sie (lacht breit): „Ausgeraubt? Was ist denn passiert, um Himmelswillen?“

Ich (ich höre mich kaum selbst noch): „Eine Polizeikontrolle! 600 Francs!“

Sie (plötzlich ernst): „Mich haben die letzte Woche auch abkassiert! Cochons!“

Ich (mutiger): „Das können Sie laut sagen!“

Sie (lacht laut auf): „Ach was! Wir eröffnen doch nicht für Geld!“

Ein anheimelndes Gefühl von Verständnis umfängt mich. Alles wirkt mit einem Mal gar nicht mehr so feindselig. Bislang habe ich zwar noch keinen einzigen Reißzahn erspäht, aber trotzdem sind drei Gegebenheiten auffällig:

  • Die Treppe, rechts der Eingangstür, die wir hinaufsteigen, knarzt verdächtig. Ich halte lieber gebührenden Abstand. Bei der letzten Begehung könnte Nanette auch einen Mehlsack leichter gewesen sein.
  • Die Wände hängen voller vergilbter Familienporträts. Eine Ahnengalerie. Gut, ohne schwarze Roben, ohne Fledermäuse, ohne gespenstisch-verhangene Mondsilhouetten, aber verdächtig allemal.
  • Der hochflorige Teppich, auf dem wir gehen, ist garantiert das beliebteste Zuhause meiner drei größten Favoriten der Tierwelt: Milben, Maden und Motten.

Ich könnte platzen vor Freude.

Wir betreten Zimmer Nr. 4. Nanette öffnet schwungvoll Fenster und Fensterläden und mit einem Schlag wird mir das ganze Ausmaß meiner bretonischen Strandung bewusst. Draußen tobt das Wetter und im Fensterrahmen tobt alles, was mehr als zwei Beine hat. Ungeziefer-Kolonien soweit der Rahmen reicht:

  • ungezügelte Vermehrung,
  • ungestörte Ausbreitung,
  • ungehemmte Holzwurmerei.

Ein Bild des Grauens sticht ein Erinnerungs-Tattoo in meine Hirnwindungen. Was die kleineren und kleinsten Mitbewohner unseres Planeten angeht, bin ich zwar von eher gleichgültiger Natur, aber diese Population überschreitet auch für die unerschrockenen Larven- und Puppenfrühstücker unter uns die Grenze des „Zertretens und Vergessens“.

Nanette (völlig unbeeindruckt): „Machen Sie es sich bequem. In zwei Stunden gibt es Abendbrot. Wir erwarten Gäste, und wir laden Sie gerne dazu ein.“

Pause.

Nanette (setzt nach): „Ach, und es gibt etwas ganz Besonderes.“

„Verdammt!

Noch beim Treppenaufstieg hatte ich etwas Vertrauen gefasst und war auf einem guten Weg.

„Warum bin ausgerechnet ich durch ein Wurmloch nach Rumänien in die offenen Arme dieser Blutsauger gereist?“

Apropos Wurm…

Ich (beiläufig): „Was gibt es denn Feines?“

Nanette (grinst): „Das wird nicht verraten!“

Ich (ruhiger, als ich es mir zugetraut hätte): „Oh bitte! Ich sterbe vor Hunger!“

Nanette (flötend): „Lassen Sie sich überraschen!“

Ich (mit einer kleinen Finte): „Kann ich helfen?“

Nanette (abwinkend): „Nein. Alles ist gut! Richten Sie sich ein, machen Sie sich frisch und kommen Sie gegen neun herunter. Übrigens wird es gut sein, wenn Sie das Wasser eine Weile laufen lassen.“

Pause.

Nanette (mit warnendem Unterton): „Bis es nicht mehr so rötlich ist.“

Die Tür fällt hinter ihr ins Schloss.

Ich: „Rötlich?“
Ich: „Das soll wohl ein Scherz sein.“
Ich: „Wie diplomatisch.“

Mir schwirrt Kupfer durch den Kopf. Ich gehe ins Badezimmer von der Größe einer Besenkammer und öffne den Wasserhahn. Die Brühe ist filmblutreif und meine Sinne sind auf „maximal sensibel“ geschaltet. Zurück im Zimmer mit dem offenen Fenster fasse ich meinen ersten Entschluss:

„Was soll’s! Ich mache es mir gemütlich.“

Warum auch nicht? Ich bin zu müde für weitere Überraschungen. Nachdem ich das Fenster geschlossen habe, um wenigstens den Wind, das Wasser und die übelsten Vielbeiner draußen zu halten, schaue ich misstrauisch unter die Bettdecke. Gar nicht so leicht, denn die Ränder sind seit einem Jahrzehnt unter der Matratze eingewachsen. Festzementiert. Das gelblich-grüne Laken wirkt abgewetzt und ausladend. Dann schaue ich unter das Bett, unter den Schrank und unter den Teppich, der alles beherbergen dürfte, was mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen ist. Die wenigen Mitbewohner, die ich gerade noch erkenne und die sich aus dem fingerbreithoch stehenden Staub machen wollen, werden ohne Verhandlung hingerichtet. Ich habe keine Lust auf kriechende oder schnell krabbelnde Bettnachbarn.

„Nicht heute Nacht.“

Und in Gnadenlaune bin ich nicht. Was sich hier tummelt, lässt mich an einen Horrorfilm denken:

„Die Rache der schwarzen Witwe.“

Es geht um ein schäbiges Hotel und ultrafiese Krabbeltiere.

„Ich bin mir selbst die größte Hilfe.“

Als nächstes werfe ich argwöhnische Blicke hinter die Heizung, hinter die aschgrau-melierten Samt-Gardinen (Marke: „Blickdicht“), das 1000-jährige Sofa (ein ausgewiesenes Parasiten-Paradies) sowie hinter eine Kommode, die fest verschlossen ist und aus dem Besitz des Teutates stammen dürfte. Das einfallende Licht lässt die aufgewirbelten Staubpartikel wie eine sichere Dosis „Lungenkarzinom“ aussehen. Der Entschluss steht:

„Hier mache ich es mir gemütlich. Basta!

Ich: „Atmen wir eben etwas flacher.“
Ich: „Und wir inspizieren die letzte Ecke.“
Ich: „Das Plafond auch?“
Ich: „Warum nicht?“

Ich: „Und das Klo lassen wir nicht aus.“
Ich: „Hast Du die schlaffe Brause gesehen?“
Ich: „Ich bin doch nicht blind.“
Ich: „Gut, dass wir erst vor ein paar Tagen geduscht haben.“

Den letzten Gedanken, die Tür auf ihre Abschließbarkeit zu überprüfen, bereue ich. Just in diesem Moment klopft es auf der anderen Seite…

„Grundgütiger!“

Mein Herz rutscht mir so tief in die Hose, dass es im linken Hosenbein auf meinen Knöchel trifft. Ich öffne zitternd. Igor alias Charles, sicher der kleinste Relativ-Ehemann Nordfrankreichs, steht im Türrahmen.

„Na gut: Er wirkt mehr, als würde er sitzen.

Mir ist plötzlich zum Lachen zumute: Mein Rucksack lässt den armen Kerl wie Atlas aussehen. Den Titanen. In der Bonsai-Ausgabe. Auf halbem Weg nach Transsilvanien. Er schnauft schwer. Der Rucksack kracht neben ihm auf den Boden. Das titanische Himmelsgewölbe hält stand, und er reicht mir wortlos die Autoschlüssel. Das freundliche Lächeln auf seinem schweißtriefenden Gesicht wirkt erschöpft.

Igor (japsend): „Ich habe abgeschlossen.“

Ich (lächle): „Das wär‘ doch nicht nötig gewesen.“

Igor (holt tief Luft): „Keine Ursache. Habe ich gern gemacht. Ist mal was anderes. Kommen Sie nachher zum Essen runter?“

Ich (unvermutet frisch): „Auf jeden Fall. Das lasse ich mir in einem neu eröffneten Hotel doch nicht entgehen!“

Im Grunde bin ich ein Schleimer.

Igor dreht sich winkend um und verschwindet im Dunkel des Hotelgangs. Nach der gründlichen Inspektion von Nr. 4 fasse ich meinen zweiten Entschluss: keine Berührung der Bettoberfläche!

„Gut, dass ich dafür meinen Schlafsack noch über den Rucksack geschnallt habe.

Über das gelblich-grüne Laken gebreitet (da kann er die nächsten Stunden auch trocknen) entsteht vor meinen Augen eine Oase der Ruhe. Eine Ahnung von Gemütlichkeit streift mein harmoniebedürftiges Inneres.

Jetzt geht es an die Vorbereitungen:

  • das Nötigste auspacken,
  • dem Bedürftigsten an mir das rötliche Wasser zeigen, das mit etwas Seife eine Art schäumende Jodtinktur auf meiner Haut entstehen lässt,

„Ich sehe aus wie ein Indianer mit Verbrennungen dritten Grades.“

  • frische Kleidung, die ich nicht habe und
  • volle Konzentration, da ich fehlende Noblesse mit kunstvollem Französisch kompensieren möchte.

Soweit der Plan.

Auf meinem klammen Schlafsack liegend, staune ich über die Unwägbarkeiten des Lebens und schließe die Augen. Es dauert keine zwei Minuten, da meldet mir mein größtes Organ, die Haut, die Invasion mindestens der Hälfte der Fensterrahmenbewohner auf mir. Obschon ich weiß, dass es sich um einen üblen Scherz meiner Wahrnehmung handelt, juckt es in jeder Ritze, ja, und in jeder Pore. Der Drang, mich kratzen zu müssen, obwohl es nichts zu kratzen gibt, wird sekündlich übermächtiger. Plötzlich läutet eine Glocke. Ein Blick auf die zu laut tickende Wanduhr verrät mir: Die zwei Stunden sind um. Ich war eingenickt. Als ich noch ganz wacklig auf den Beinen meine Zimmertür öffne, rutscht mein Herz ein zweites Mal auf Knöcheltiefe…

Nanette (direkt vor meiner Nase, über die Maßen freudig, fast erregt): „Kommen Sie, alle warten schon auf Sie!“

Ich (in einer vorgetäuschten Vorwärtsbewegung): „Bin schon auf dem Weg.“

Ihrem erstaunlich leichtfüßigen Schritt folge ich, ohne den gebührenden Sicherheitsabstand auf der knarzenden Treppe zu vergessen. Stimmen schallen aus dem Raum links des Eingangsportals. Sie werden von einem unüberriechbaren Knoblaucharoma getragen.

„Dieser Knoblauch-Smog nagelt jeden Sarg zu.“

Ein Tisch mit zwölf Plätzen steht quer, mittig und rustikal in einem großen Speisezimmer. Fünf Plätze an jeder Seite, zwei vor Kopf. Sieben Plätze sind besetzt. Ich erkenne nur Charles, der mir wieder freundlich zuwinkt. Unter heiterem Witzeln, ob der fabelhaften Wiedereröffnung des Hotels, verliert sich meine anfängliche Scheu und auch die der anderen Gäste schnell. Alle werden mir vorgestellt:

  • Babette zuerst, die Schwester von Nanette, mit dem Kopf eines jungen Wisent – andernorts hängt so etwas als Trophäe an der Wand (diesen Eltern muss man entweder gratulieren oder man muss ihnen eine Zwangsjacke verpassen – je nach Geschmack),
  • Yves, ihr Mann, der ohne Weiteres ein buckelfreier Bruder von Charles sein könnte und ein durch und durch unerschrockener Zeitgenosse sein muss,
  • Mathéo, ein entfernter Nachbar, mit Frau Isabelle – beide blass wie zwei Rollen Erfurter „Raufaser“,
  • Pascal, dessen Herkunft im Dunkeln bleibt, und
  • dessen Frau, Elodie, die mir so fest die Hand drückt, als wäre sie in der Mitte eines Wrestling-Ringes gezeugt worden.

Ich: „Und wo bitteschön sind die ganzen Vampire?“
Ich: „Keine Ahnung.“
Ich: „Haben wir uns umsonst in die Hosen gemacht?“
Ich: „Könnte man fast meinen.“

So sitzen wir:

  • Babette, Yves, Nanette, Charles und ich auf der einen Seite
  • Mathéo, Isabelle, Pascal und Elodie auf der anderen.

Die Aufmerksamkeit, die man mir zu Beginn noch schenkt und die dazu passende Neugier, woher ich käme, wie meine Anreise war und warum ich überhaupt alleine reisen würde, lösen sich binnen weniger Viertelstunden in der Knoblauchluft auf oder verdampfen mit dem ganzen Pastis aus den Rachenräumen aller Eingeborenen am Tisch.

Was folgt, sind Anekdoten, Witze und Geschichten, denen ich auch mit größten Lauschanstregungen nicht folgen kann. Mein Schulfranzösisch endet schon dort, wo die essigweinschweren Zungen noch nicht einmal ihren Anfang nehmen. Dazu später mehr. Allerdings dechiffriere ich deutsche Worte wie Schnaps und Hitler. Da ich kein eigenes Tisch-Gegenüber habe, kann ich so verständnislos aussehen, wie ich will. Niemand nimmt davon Notiz. Was mir bleibt, ist die Erforschung der Untiefen meines Pastis*-Glases.

*Anmerkung:
Pastis ist ein Anisgesöff mit 40 oder 45 Umdrehungen, wie der jugendliche Kenner zu den Prozentangaben des Alkoholgehaltes zu sagen pflegt. Es hat alles, was der noch gesunde Organismus braucht: Kräuter, Zucker, Fenchelsamen, Süßholzwurzeln und eben reichlich Alkohol. Aber wussten Sie, dass Pastis erst mit dem Verbot von „Absinth“ (eine andere Abscheulichkeit!) Anfang des letzten Jahrhunderts erfunden wurde. In der Provence! Französische Bauernlümmel aus dem Süden des Landes haben aus ihrer Verzweiflung einen Schnapsersatz gebraut. Eine völlig verunglückte Nachahmung! Auf Französisch heißt Nachahmung „Pastiche“!

„Nicht zu fassen.“

Übrigens: Füllt man das Gebräu mit Wasser auf, sieht er aus wie Milch und schmeckt wie synthetische Gülle!

„Klasse!“

Aus Langeweile zähle ich die noch brennenden Kerzen (immerhin über hundert), frage mich, ob man in diesem Kabuff an Sauerstoffmangel verrecken kann (dazu später mehr!), verziehe die Mundwinkel, wenn alle lachen, und staune über den Tafelwein, von dem ich mir ein Fläschchen mit aufs Zimmer schmuggeln werde. Damit kann ich vorzüglich umherstreunende Vampir-Strolche verdreschen. Diese Flaschen sind so schwer, dass ich das spezifische Gewicht von Gold darin vermute. Wahlweise könnte ich mit dem Inhalt auch die Fensterrahmen in meinem Zimmer ausbrennen. Trinken werde ich von diesem „Nierentritt aus der Bretagne“ aber keinen Tropfen. So lange es den selbstgebrannten Pastiche gibt, ist umsteigen ja keine Pflicht. Wahrscheinlich bin ich morgen sowieso blind, und was soll’s, ich will ja nicht unhöflich sein!

Wenn Sie nun auf den nächsten Seiten Mitschriften tiefschürfender oder erkenntnisreicher Gespräche vermissen oder mein Versprechen eingelöst sehen wollen, wie ich meine bedauerliche äußere Erscheinung mit gekonntem französischem Wortwitz wettmache, muss ich Sie aufs Fieseste enttäuschen: Nichts davon kann ich anbieten. Selbst wenn es faszinierende Gesprächsthemen gegeben haben sollte, wovon ich allerdings bis heute nicht ausgehe, dann sind diese als alkoholgetränkter Sprachbrei an meinen peinlich unbegabten Abiturienten-Ohren vorbeigewabert.

Über was wir aber noch sprechen sollten, ist der Sauerstoffmangel in diesem Raum:

Ich: „Eine Gräueltat!“
Ich: „Ein Abend, der als Verstoß gegen die Menschlichkeit in Den Haag, in Genf oder sonst wo verhandelt werden müsste.“
Ich: „
Ein achtstündiger Frevel an einem deutschen Abiturienten.
Ich: „Und das obwohl wir unsere Zigaretten selbst drehen.“
Ich: „Ich sage nur, ‚
Buccaneer Whiskey‘.
Ich: „Diese rauchende Gemeinschaft ist eine Verschwörung.“
Ich: „Gegen alles, was keine Kiemen hat.“
Ich: „Auch das könnte man fast meinen.“

An diesem Tisch wird „Gitanes Maïs*“ gereicht und geraucht – und sonst nichts! Diese Glimmstängel fühlen sich beim Inhalieren an, als haue man mit einem Hammer auf den einen Lungenflügel, während man den anderen in einen Schraubstock spannt.

„Super!“

*Anmerkung: Gitanes Maïs!
Nicht „Filtre“! Nein! Nicht einmal „Brunes“ und auch nicht „Brunes Filtre“! Von „Blondes“ oder „Blondes Filtre“ wollen wir an dieser Stelle schon gar nicht sprechen und über „Blanc“ oder „Blanc Filtre“ zu reden, wäre ein hellqualmender Raucherwitz. Die wahre Droge: „Gitanes Maïs sans filtre“! Bei ihr kommt gelbliches Maispapier an den Start. Die Fingerkuppen sehen schon nach ein paar Tagen entsprechend aus.

„Appetitlich! Als hätte man Urinsteine an den Handgelenken.“

Die Wirkung des nachtschwarzen Tabaks wird durch das gelbe Maisblatt potenziert! Ein tiefer Zug und den Rauch einige Sekunden in der Lunge baumeln lassen: eine Endzeiterfahrung! Nach fünf oder sechs von den widerlichen „Pastiche“ bekommt der gelb-bläuliche Qualm eine bemerkenswerte Zweitwirkung (neben dem höllischen Brennen bis in der letzten Alveole): Meine „Wahrnehmung“ gerät aus den Fugen. Zusammen mit meiner Einsamkeit bei Tisch entsteht eine Wolke der Trübung und der Wahnbilder um mich. Ich trinke phantasierend und ich rauche, was mir vor die Lippen kommt. Der Qualm im Speiseraum macht den Knoblauch bald vergessen, lässt sich dann nicht mehr vom Nebel in der Bretagne unterscheiden und mit der Zeit ist mein Hirn darin verschollen.

Über was wir auch noch sprechen sollten, ist das Essen:

Ich: „Sieh nur, die Suppe!“

Pause!

Ich: „Warum riecht die so streng?“

Pause!

Ich: „Was heißt Knoblauch auf Französisch?
Ich: „Ail!“
Ich: „Echt?“
Ich: „Wenn ich es sage!“
Ich: „Und warum stellt uns Nanette die erste Knoblauchsuppe unseres Lebens als „soupe à l’oignon“ vor?“
Ich: „Keine Ahnung.“
Ich: „Da sind gar keine Zwiebeln drin.“
Ich: „Werden wir bei so viel Knoblauch jemals wieder zu einer Paarung zugelassen?“

Nach der Suppe kommt die Saat aus heimischem Anbau: Wirsing, Romaensco, ein paar Pastinaken und Ochsenherztomaten sowie Steckrüben und einige Grünzeug-Bitterlinge. Mit der pikant-würzigen Knoblauch-Vinaigrette darüber geht diese Vegetarierplatte beherzt unter die Haut.

„Damit muss man aufgewachsen sein.“

Ein „Amuse Gueule“, wie Babette das Grünzeug schmatzend nennt, mag sich in meinen Blättern und Feldfrüchten nicht finden. Neben dem Knoblauch schmeckt die Vorgartenernte vor allem bitter.

„Ich sollte den Tafelwein zum Veredeln nehmen.“

Meine Tischgesellschaft raucht unbekümmert auch während des Essens. Eine schöne Art, sich die Geschmacksnerven zu stählen. Der Konsum des essigsauren Getränks mit der nachtroten Farbe, das man sicher auch zum Abbeizen meiner Teutates-Kommode nutzen könnte, ist bei der vierten Karaffe angelangt. Fassungsvermögen des stattlichen Glas-Ungetüms: Alkoholiker-freundliche drei Liter. Dabei hat die Ausgelassenheit am Tisch mit der Unverständlichkeit der Konversation bestens Schritt gehalten.

Ich: „Wir könnten nicht einsamer sein.“
Ich: „So haben wir etwas Zeit, in uns selbst zu forschen.“
Ich: „Ich fühle nur, wie das Grünzeug in uns zu arbeiten beginnt.“
Ich: „Sonst sieht du nichts?“
Ich: „Du meinst außer den einsetzenden Gärprozessen?“
Ich: „Kannst du mal etwas mehr Tiefe beweisen?“
Ich: „Jenseits des lustigen Spiels unserer Innereien?“
Ich: „Schön erkannt: J-E-N-S-E-I-T-S!“
Ich: „Lass mir Zeit!“
Ich: „Und?“
Ich: „Ich sehe, dass ein Krieg in mir tobt.“
Ich: „Wie bitte?“
Ich:
„Chemische Waffen fliegen durch meine Eingeweide.“
Ich: „Du bist unmöglich!“
Ich: „
Waffen, die nie abgeschossen werden wollten.

Ich beuge mich am Tisch etwas vor, um dem Kampf des fiesen Gemüses in mir etwas Luft zu verschaffen.

„Riechen wird das in diesem Dampf niemand. Und sterben wird deswegen keiner.“

Der folgende Hauptgang nötigt mir mehr Aufmerksamkeit ab, als ich es einer einfachen Speise jemals zugetraut hätte. Allein der Teller, der mit einer silbernen Glocke gekrönt vor mir einschwebt, macht mich zutiefst neugierig. Ich vernehme ein inbrünstig gerauntes „La Cloche“ aus dem schon pelzig klingenden Mund der Wrestlerin Elodie. Sie hat in der letzten Stunde so massiv zu schielen begonnen hat, dass mich ständig ein Gefühl der Gespaltenheit befällt, wenn sie versucht, mich anzusehen.

„Unter diesen Clochen hätte spielend ein Medizinball Platz.“

Die trunkene Schar um den Tisch verstummt. Alles wartet, bis Nanette das Zeichen gibt. Ehrfürchtig wird das Geheimnis des Tellerhutes unter einem lauten ‚Ahhh‘ gelüftet. Was darunter auftaucht, ist eine Beschreibung wert: Caille!

Ich: „Was zum Henker ist das?“
Ich: „Es ist klein!“
Ich: „Sehr klein!

Ich: „Ein Vogel?“
Ich: „Mehr ein Vögelchen.

Ich: „Ich tippe auf Wachtel.“
Ich: „Ich auf einen Tellerwitz.“
Ich: „Das Dingelchen sieht mager aus.“
Ich: „Einsam.“
Ich: „Ein kleines Häufchen Elend.“
Ich: „Mir ist zum Heulen zumute.“
Ich: „Das kann man doch unmöglich essen.“
Ich: „Es kann sich nur um einen Rest handeln!“
Ich: „Den Hauptteil hat der Koch gefuttert.“
Ich: „Ganz sicher.“

Keine Beilage, keine Verzierung. Nur das Häufchen. Neben mir wetzen Mathéo und Isabelle die Messer.

„Wofür?“

Auch wenn ich wusste, dass Wachteln die kleinsten lebenden Hühnervögel auf der ganzen weiten Welt sind und ich schon ahnte, dass es wenig ergiebig für einen kalorienhungrigen Kadettfahrer wie mich werden würde, so war mir nicht klar, dass man vor einem solchen Wachtel-Teller tatsächlich verhungern kann: Um nur eine einzige Gabel Fleisch von diesem bedauernswerten Vögelchen abzuschaben und vor sich essfertig auf dem Essbesteck aufzutürmen, braucht man – tatsächlich und unwiderlegt – mehr Energie, als man mit dem Ergebnis der Vögelchen-Fledderei zuführen kann.

Ergo:
Sie müssen nur lange genug Wachteln essen, um am Ende – mit dem Besteck in der Hand und vielen Schweißperlen auf der Stirn – elendiglich zu verhungern.

Unter vielen ‚Ahs und Ohs‘  der Umsitzenden habe ich schließlich sieben dieser armen Geschöpfe kunstvoll seziert, gehundertteilt und ausgekratzt. Der Erfolg dieser Wachtel-Häckselei ist am Ende so mager, dass ich schon das Dekor der Tischdecke mitessen will. Ich kann mich aber gerade noch bremsen, trotz des schon tief hängenden Pastis-Nebels um mich. Es sitzen schon zwei Dutzend Bretonen und Bretoninnen um den Tisch. Allein Nanette sehe ich vier Mal. Bei diesem Volumen kein Wunder.

Und der Rest des Abends?

Gelalle, Gejohle und wüste Albernheiten! Ich bin schließlich so „pasteurisiert“ – so muss es heißen, wenn man sich mit diesem Pastis-Zeug an den Rand des Abgrunds gesoffen hat (…oder war das ein Ausdruck aus dem Molkereiwesen von Frau Antje?), dass ich weit nach Mitternacht sogar die Marseillaise mitgrölen kann. Im Morgengrauen wanke ich gestützt von Igor in meine Kammer. Mein lieber Freund, ist dieses Männlein stark…

„…und saufen wie ein Großer.“

Was mir die versoffene Logik allerdings verschwieg, war etwas anderes, aber dazu bald mehr…

Ende fünfter Einschub!

Seid lieb gegrüßt und schöne Pfingsten
Euer Paul

PS: Der sechste und vorletzte Einschub dieses 10. Kapitels wird garantiert nicht so lang auf sich warten lassen. Versprochen.

 

7 Kommentare zu „Aus dem Unterholz der Dummheit – Kapitel 10 (Teil 5)

  1. Deutlich angenehmer, liebe Freundin, aber ich bin dankbar für all diese Erlebnisse, denn sonst hätte ich nichts zu berichten. Bis auf bald und gehab Dich wohl Dein Paul

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  2. Nun bin ich ein Freund ausgefeilter Gaumengenüsse und beim lesen deines Textes kam es mir so vor, als habe ich das allererste Mal meine Nudeln mit Salz gekocht, so groß war der Unterschied zwischen meinem normalen Leben als Leser und dem Verschlinger deiner Lektüre. Sei also bedankt für meinen kurzweiligen Abend, eingehüllt in virtuelle Nebelschwaden von Pastiche (ich meine, er schmeckt nach Vogelsand) und dem widerlichen Dauerjucken durch all das Getier deiner damaligen Herberge. Man hofft, du hattest nur viel Arbeit und freut sich auf den fabelhaften letzten Einschub!

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    1. Lieber Arno,

      ich Danke Dir für die Inspiration Deines „nudelsalzigen“ Bildes. Eine wahre Freude,
      wenn sich jemand so sehr an meinen Texten erfreuen mag. Hab eine gute Zeit…

      Dein Paul

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  3. … na also, geht doch. Die Warteschleife war zu gross zum Binden oder war das etwa die Nabeläquatoriale von der Beleibten?
    Fröhlichen Gruss StrenGeheim

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  4. wundervoll … amüsant … komme mir vor wie bei Dracular …. mein Kopfkino war von der 1. bis zur Letzten Zeile auf “ Spot An “ … ❤ lichen Dank mein lieber Freund … ich hoffe deine Pfingsttage waren weit angenehmer als die " elustere Rund "
    Liebe Grüße Claudia

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    1. Deutlich angenehmer, liebe Freundin, aber ich bin dankbar für all diese Erlebnisse, denn sonst hätte ich nichts zu berichten. Bis auf bald und gehab Dich wohl Dein Paul

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